Der Unterzeichnete, welcher vor Jahren seine Aufmerksamkeit den vogtländischen Sagen zuwendete (s. Köhler, Volksbrauch, Aberglauben, Sagen und andere alte Überlieferungen im Vogtlande. Leipzig, Fr. Fleischer. 1867), gedenkt jetzt die Sagen des Erzgebirges zu bearbeiten. Derselbe hat sich diesem Stoffe bereits seit einigen Jahren mit Vorliebe zugewendet und dabei besonders das Eigentümliche unserer Sagenwelt, z. B. in dem Aufsatze über die Dämonensagen des Erzgebirges (50. und 51. Jahresbericht des vogtl. altertumsforsch. Vereins zu Hohenleuben), zu erfassen gesucht. Das Erzgebirge ist in der That viel reicher an Sagen, als man gewöhnlich glaubt; denn in den Chroniken älterer und neuerer Zeit und auch noch in mündlicher Überlieferung finden sich Schätze, welche uns in den bereits erschienenen Sagensammlungen von Dietrich, von Segnitz, Ziehnert, Gräße u. A. nicht aufbewahrt wurden. Die Sammlungen der letztgenannten drei Autoren umfassen übrigens allgemein sächsische Sagen, und Segnitz und Ziehnert boten sie in gebundener Form, wodurch die Gefahr, welcher auch Ziehnert nicht entgangen ist, nahe lag, Subjectives mit den aus dem Brunnen des einfachen Volkslebens geschöpften Stoffen zu verschmelzen. Besonders liegt dem Unterzeichneten daran, die noch im Munde des Volkes frisch lebenden Sagenstoffe und zwar so schlicht, wie das Volk selbst sie erzählt, ohne Zuthat und Ausschmückung, zu erhalten. Die Mitglieder des Erzgebirgsvereins würden ihm nun einen großen Dienst erweisen und sich damit auch zugleich um die Kunde des Erzgebirgs selbst sehr verdient machen, wenn sie in den Winterabenden die ihnen bekannten oder bekanntwerdenden Sagen ihrer Heimat aufzeichnen und ihm zusenden wollten. In die Vereinsversammlungen würde dadurch ein neues Leben kommen, wenn sie dieselben wenigstens zum Teil durch Mitteilungen alter Überlieferungen ausfüllen wollten, wenn besonders die geehrten Zweigvereinsvorstände oder andere geeignete Persönlichkeiten versuchten, in dieser Richtung auf die verschiedenen Mitglieder anregend einzuwirken, wenn sie zum Erzählen den ersten Anstoß gäben und dann das Gehörte möglichst treu aufnotierten. Manches Mitglied entschließt sich auch vielleicht, zu Hause die ihm geläufigen Sagen in schlichter Form aufzuzeichnen und dann in einer Vereinsversammlung vorzutragen. Dadurch wird manche Erinnerung aus der Kinderzeit auch bei anderen geweckt und so ein Schatz der ewig jungen Volksdichtung gehoben, welcher sonst vielleicht verloren gegangen wäre. Auch der scheinbar geringfügigste Stoff wird willkommen sein, denn es läßt sich nicht voraussehen, welche wertvolle Gabe er vielleicht in sich birgt. Am reichsten wird die Ausbeute an Orts-, Wunder- und Zaubersagen, jedenfalls auch die an Sagen von Dämonen, Spukgeistern und Gespenstern, sowie von vergrabenen Schätzen sein. Die Ortssagen beziehen sich auf Gründung und Namen der betreffenden Orte, auf Flurnamen, Ruinen, Brunnen, Bäume, Bergwerke, unterirdische Gänge, Steinkreuze, Kirchen, Wappen, auf Sitten, Redensarten u. s. w. Die Wundersagen erzählen von Heilquellen, Wunderblumen, wunderbarer Auffindung von Erzgängen, ferner von Weissagungen, Ahnungen und Träumen, von wunderthätigen Bildern u. s. w., die Zaubersagen von Zauberern, Hexen, Beschwörungen und dgl. Die Sagen von Spukgeistern und Gespenstern behandeln den wilden Jäger und das wütende Heer, weiße Feuer, gespenstische Mönche und Bergleute, gespenstische Tiere, wie Hunde, Katzen, Kälber u. s. w. Die Sagen von Schätzen erzählen uns, wo die Schätze liegen, von wem sie bewacht und wie sie gehoben werden. Die Dämonensagen beziehen sich auf Wassernixe, Kobolde, Waldweibchen, Moosmännchen, Drachen, Zwerge und Riesen. — Außerdem dürften auch Sagen vom Teufel, welche sich zum Teil mit besonderen Felsen verknüpfen, nicht gerade selten sein. Spärlicher werden im Erzgebirge Helden- und Fürstensagen oder Göttersagen, welche letztere sich auf ehemalige Opferplätze, heilige Haine u. s. w. beziehen, anzutreffen sein. Um so dankenswerter aber müssen derartige Mitteilungen entgegen genommen werden.
Bei dem Sammeln von Sagen haben wir übrigens eine vortreffliche Gelegenheit, nach einer neuen Richtung hin das Interesse der Frauen an unseren Erzgebirgsvereins-Bestrebungen zu wecken; die Frauen sind vortreffliche Bewahrer alter Überlieferungen, und es gilt nur, sie zum Erzählen zu veranlassen. Widmen doch auch die Gebrüder Grimm in der Vorrede zu ihren Kinder- und Hausmärchen (große Ausgabe, Göttingen, 1843) der schlichten Bäuerin Frau Viehmännin aus Niederzwehra bei Kassel Worte der Anerkennung und des Dankes dafür, daß sie ihnen alte, fest im Gedächtnis behaltene Sagen sicher und lebendig so erzählte, daß sie zum Teil wörtlich nachgeschrieben werden konnten. Ich habe selbst auf meinen Wanderungen manchen hübschen Stoff nicht bloß von Frauen, sondern auch von schlichten Landleuten und Waldarbeitern erhascht und bitte nun die Mitglieder des Vereins und alle, welche dafür Interesse haben, mir gefälligst durch ihre Teilnahme am Sammeln die gestellte Aufgabe zu erleichtern. Die Namen der Sammler sollen seinerzeit mit Dank an betreffender Stelle genannt werden.
Dr. Köhler.
Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 1. Jg. Nr. 12 v. 15. Dezember 1881, S. 105 – 107