Seitdem an einem Wintertage durch 4 Chemnitzer Herren der Keilberg bestiegen worden war, deren Unternehmen wir seiner Zeit beschrieben, faßten drei Chemnitzer Turner den Plan, den höchsten Punkt Sachsens, den 1213 Meter hohen Fichtelberg auch einmal während des Winters zu erklimmen und brachten denselben, obgleich diesem Plane selbst seitens einiger dieserhalb befragten Gebirgsbewohner wegen des einige Tage vorhergegangenen starken Schneefalles mehrfache Bedenken entgegengestellt wurden, am 3. März zur Ausführung.
Die kühnen Turner teilen hierüber folgendes mit: Wir benutzten den Sonnabend abends 9 Uhr 30 Min. nach Annaberg fahrenden Zug, übernachteten daselbst und fuhren am Sonntag früh 5 Uhr 32 Min. weiter nach Cranzahl. Früh ¼7 Uhr dort angelangt, ging die Wanderung auf festgefrorenem Boden schnellsten Schrittes nach Neudorf, denn es herrschte an diesem Morgen eine geradezu beißende Kälte von mindestens 20 Grad. Im Neudorfer Gasthofe wurde eine kurze Zeit gerastet und ein kräftiges Frühstück eingenommen, da alsdann 2 – 3 Stunden nichts wieder anzutreffen ist, und dann ging´s rüstig nach dem Roten Vorwerk, einem dicht am Fuße des Fichtelbergs gelegenen Gehöfte, weiter. Die Kälte hatte inzwischen etwas nachgelassen und leichter Schneefall war eingetreten. War bisher die Straße gut ausgeschurrt, so änderte sich dies vom Eintritt in den Wald ab wesentlich. Der Waldweg nach dem Roten Vorwerk war schwer passierbar, bot aber prächtige Schneebilder, so daß man bei deren Anblick die Schwierigkeiten des Weges ganz vergaß. Vormittags ¼11 Uhr standen wir am Wegweiser beim Roten Vorwerk und schickten uns an, den Aufstieg zu beginnen, der uns seitens des Besitzers des Gehöfts als unmöglich, bezw. sehr gefährlich geschildert wurde, da einesteils von hier aus in letzter Zeit niemand den Weg nach oben passiert hätte, andernteils derselbe aber durch den letzten starken Schneefall vollständig zugeschüttet sei.
Als wir die Schneuße betraten, welche an der nach Crottendorf abbiegenden Fahrstraße beginnt und schnurgerade nach dem Gipfel des Fichtelbergs führt, fanden wir allerdings jene Aussage voll bestätigt – von unten bis zur Spitze des Berges sah man nur ein glattes Schneefeld, das eine Tiefe von ca. 1 m im Thale, also oben wohl 1½ – 2 m haben mochte. Zum Glücke war dies indeß durch die starke Kälte ziemlich widerstandsfähig geworden. Mit frischem Mute begannen wir unser Werk. Hintereinander stellten wir uns auf, der Erste mußte Bahn treten, wobei er allerdings mindestens bis an die Hüften versank; die Nächsten folgten dicht darnach, die vorgetretenen Löcher benutzend, denn sonst war an ein regelrechtes Vorwärtskommen nicht zu denken. Es war ein mühseliges und anstrengendes Stück Arbeit – man wolle bedenken, daß wir ohne Seil und ohne Bergstock waren. Abwechselnd mußte ein jeder voranschreiten, denn mehr als 50 bis 60 Schritte konnte keiner als Bahntreter wirken; dazu gehörte schon ein ungeheurer Kraftaufwand. Von den an der Seite der Schneuße angebrachten Bänken, sowie aufgeschlichteten Holzhaufen war nichts zu sehen. Nur dann und wann, sobald der Weg etwas verfehlt wurde, kamen wir auf diese Gegenstände zu stehen, um dann beim nächsten Schritt wieder bis unter die Arme einzusinken. Nach etwa einstündigem Marsche erreichten wir die erste Lichtung, woselbst wir ein wenig ausruhten, denn die inzwischen hervorgebrochene Sonne meinte es sehr gut, und wir waren nicht nur warm geworden, sondern trieften förmlich vom Schweiß! Ueber uns war der klare, blaue Himmel, ringsumher ein mächtiges, durch die strahlende Sonne in tausendfachen Farben schillerndes Schneefeld, aus dem die jungen Fichten gleich Puppen – so dicht waren dieselben mit Schnee bedeckt – hervorragten – wahrhaftig ein bezaubernd schönes Naturbild! Ebenso bot der Hochwald einen großartigen Anblick dar, der durch die den Stämmen und Aesten anhaftende Schnee- und Eiskruste einem Eispalast glich! So herrlich wie hier die Natur gewaltet, kann nicht zum Ausdruck gebracht werden. Nichts bewegte sich um uns her, nur hier und da sah man die Spuren des Wildes! – Der Weg wurde nun weiter fortgesetzt und wurden alle Kräfte aufgeboten, um auch die letzten Hindernisse zu nehmen, bezw. unser gestecktes Ziel zu erreichen. Mittags ¾12 Uhr konnten wir endlich auf der Spitze des Berges, also genau nach einem Marsche von 1½ Stunde, ein kräftiges „Gut Heil” erschallen lassen. Leider bot das oben befindliche Haus noch keine Unterkunft, da dasselbe noch im Bau begriffen ist und erst dieses Frühjahr seiner Einweihung entgegengehen soll. Daß es aber während des Winters dort oben hart hergeht, davon legten die an dem Gebäude, namentlich an dem Gerüste hängenden dicken Schnee- und Eisschichten beredtes Zeugnis ab.
Zu unserer bitteren Enttäuschung war die Fernsicht eine wenig günstige; die Höhenzüge nach der sächsischen Seite zu waren von dichtem Nebel umlagert, nur die Spitze des Pöhlberges ließ sich erkennen; der Keilberg mit seinem Turm lag dagegen klar vor uns, ebenso der Spitz-, Rosen- und Haßberg, sowie das im Thale liegende, von der Sonne ganz beleuchtete Oberwiesenthal.
Um 12 Uhr traten wir unsern Rückweg an, der eigentlich durch die am kleinen Fichtelberg entlang führende Schneuße nach dem Neuen Hause geplant war. Um eine Abkürzung des Weges herbeizuführen, bogen wir indeß links in die erste Schneuße ein, was leider zu einem argen Verhängnis für uns werden sollte! Die Schneuße selbst ist sehr schmal, außerordentlich abschüssig und war dergestalt mit Schnee verschüttet, daß wir beständig bis über die Hüften, teilweise sogar bis unter die Arme in den Schnee beim Vorwärtsschreiten versanken! Wir waren, wie wir späterhin erfuhren, in den sogenannten „Schönen Jungferngrund” geraten, der im Sommer von dortigen routinierten Bergsteigern wegen seiner vielen gefährlichen Abgründe und Schluchten streng gemieden, noch viel weniger aber im Winter zum Abstieg benutzt wird! Ahnungslos schritten und rutschten wir die steile Schneuße abwärts. Da standen wir plötzlich vor einer gähnenden Tiefe. Tief unten das Thal und jenseits der steil abfallende Abhang des kleinen Fichtelberges. Die Schneuße geht fast spitz zu, links und rechts von hohem Walde, der im Schnee fast ganz versteckt lag, umgeben. Der Schnee konnte hier wohl häuserhoch liegen. Nachdem wir noch ein weiteres Stück vorgedrungen, wobei der Erste eine Strecke von 10 – 15 m in die Tiefe abrutschte, wurde uns plötzlich durch einen rieselnden Bach Halt geboten. Von hier aus gab´s überhaupt keinen Weg mehr. Nur der Lauf des Baches nach dem Thale zu, woselbst sich die Wasser in einen Bassin fangen, erschien uns anfangs als der einzige Ausweg. Wir versuchten an den am Bache befindlichen Bäumen hinzukriechen, doch versanken wir regelmäßig bis unter die Arme in den Schnee. An ein Vorwärtskommen war also hier nicht zu denken. Zurück konnten wir auch nicht, denn die fast steilen Wände ließen sich infolge der Ablockerung des Schnees nicht wieder erklimmen. Auch der Versuch, den rechts vom Bache befindlichen steilen Abhang des kleinen Fichtelberges zu erreichen, um so dem Thale und dem Bache auszuweichen, blieb vergeblich. Guter Rat war jetzt teuer. Neuer Mut ward gefaßt, und es galt nunmehr, im Bache selbst fortzuwaten. Dieser Versuch hätte aber beinahe ein Menschenleben gefordert. Nachdem nämlich der zuerst Vorgehende von einem Baume aus, an dem er bereits bis unter die Arme einsank und sich nur mühevoll herausarbeitete, direkt auf den mit Schnee überdeckten Bach sich begeben hatte, brach derselbe sofort bis an den Hals ein, und nur durch Ausspreizen der Arme konnte er sich vor gänzlichem Versinken retten. Nach furchtbaren Anstrengungen – wir hatten, wie schon vorhererwähnt, weder Seil noch Stock bei uns – gelang es uns endlich, den Versunkenen wieder flott zu machen. Daß wir aber alle drei rettungslos verloren gewesen, wenn wir dort weiter vorgedrungen wären, war uns zur peinlichen Gewißheit geworden.
Wir gönnten uns jetzt einige Zeit zur Erholung, um uns zunächst wieder etwas zu erwärmen, denn wir waren von oben bis unten durchnäßt und hatten ganz von Frost erstarrte Hände und Füße. Alsdann machte ein Gefährte wiederholt den Versuch, ungefähr zehn Schritte oberhalb der Einbruchsstelle den Bach zu überschreiten, um den steilen Abhang des kleinen Fichtelberges doch zu gewinnen. Nach langen vergeblichen Anstrengungen glückte es ihm endlich, im Schnee kriechend, nach oben zu kommen, und dies war unsere Rettung. Die beiden Zurückgebliebenen arbeiteten sich unter gegenseitiger Unterstützung ebenfalls empor, und so ging es, von Hunger und Kälte auf´s äußerste erschöpft und gepeinigt, über den Abhang nach der Landstraße zu, um ¼3 Uhr nachmittags den Ratskeller in Oberwiesenthal zu erreichen. Zum Abstieg hatten wir also über zwei Stunden gebraucht. – In der freundlichsten und zuvorkommendsten Weise wurde uns hier vom Wirte und dessen Gemahlin alles Nötige zur Verfügung gestellt, sodaß wir uns für einige Stunden der uns so bedürftigen Ruhe hingeben und vollständig erholen konnten, um dann gegen Abend unsere Heimfahrt zunächst mittels Schlitten nach Weipert, von da mittels Bahn nach Chemnitz anzutreten. An dieser Stelle sei noch besonders der freundlichen und billigen Bedienung seitens des Ratskellerwirtes in Oberwiesenthal gedacht. Allen denjenigen aber, denen unsere heutige Schilderung ein Sporn für ein gleiches Unternehmen für später sein sollte, können wir diese Besteigung nur als äußerst lohnend empfehlen. Jedoch raten wir dringend, sich dabei eines Führers – man wende sich dieserhalb an den Ratskellerwirt in Oberwiesenthal, der in uneigennützigster Weise als bekannter Bergsteiger selbst die Führung übernimmt, oder andere ebenso zuverlässige Führer nachweisen kann – zu bedienen, aber sich nicht auf Abkürzungen des Weges einzulassen, wie wir es leider gethan haben, um dann so schweren Gefahren ausgesetzt zu sein.
K. H. D.
Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 9. Jg. Nr. 3 v. März 1889, S. 19 – 21.