Eine Wanderung aus der herbstlichen in die winterliche Landschaft

Von Dr. Köhler.

Es war am 2. Oktober dieses Jahres. Unter einem trüben Himmel fuhr ich über Schwarzenberg nach Grünstädtel, wo sich die in diesem Sommer dem Verkehre übergebene Sekundärbahn mit ihren niedrigen Wagen von der nach Annaberg führenden Hauptlinie bis zur Endstation in Rittersgrün abzweigt. Von Schwarzenberg bis Grünstädtel fährt man im Thal der Mittweida, deren alter Name „die Miepe” noch jetzt vereinzelt aus dem Munde der Anwohnenden gehört wird. Von Grünstädtel, nach dessen älterer, der heiligen Anna geweihten Kirche einst viel gewallfahrtet wurde und wo 1690 der gothaische Kapellmeister Stölzel, der Komponist des Kirchenliedes „Liebster Jesu, wir sind hier”, hier geboren ward, ging dann die Fahrt im Thale des Pöhl- oder Caffwassers weiter. Oberhalb des freundlich gelegenen Pöhla ist Globenstein bald erreicht; zur Linken erheben sich nahe dem Wasser und der Bahn schroffe Glimmerschieferfelsen, an deren Fuße für die Flemming´schen Fabrikanlagen noch Raum gewonnen ward; dann erweitert sich das Thal, in welchem lang gedehnt und mit seinen Häusern auch zu beiden Seiten die Berglehnen hinaufsteigend sich Rittergrün hinzieht. Es war gegen Mittag, als ich an der Haltestelle den Bahnwagen verließ, und der Regen, welcher bei Pöhla fein begonnen, wurde jetzt etwas heftiger, doch hinderte er nicht, daß ich nun, mit dem Schirm bewaffnet, meine Wanderung zu Fuße fortsetzte. Vor mir erhoben sich grüßend die waldigen Berge, teilweise von leichten Nebelmassen verhüllt. Da und dort schien es, als wolle sich der Himmel lichten, und auf besseres Wetter hoffend, schritt ich daher weiter bis nach „Ehrenzipfel”, wo beim „Patsch” eine Tasse Kaffee recht willkommen war. Bald waren die jetzt mit gelben und selbst braunen Blättern geschmückten Buchen am Wege nach Zweibach erreicht. Die Farren bewahrten noch ihr frisches Grün, wenn auch die Wedel mehrfach geknickt bereits im fahlen Grase lagen. Die Blätter der Brombeeren und einzelner Ebereschen erfreuten durch ihr schönes Rot, oder die ersteren hatten eine dunkel-orange Färbung angenommen; gelb leuchtenden die Blätter der Birken, an denen ich weiter abwärts vorüber gegangen war, doch die des Traubenhollunders hatten noch ihr Grün bewahrt, während weiter oben, in der Nähe von Zweibach, die Heidelbeersträucher am Wege bereits ein lebhaft rotes Kleid trugen. Bis Zweibach, das, zur Gemeinde Tellerhäuser gehörig, nur aus einer Bretmühle und einem kleinen Wirtshause besteht, war ich von Ehrenzipfel aus etwas über 100 m aufgestiegen. Die Meereshöhe dieses kleinen Ortsteils, wo sich das oberhalb der Tellerhäuser am Schmidt-Gehau entspringende Klingerwasser mit dem Höllbächel vereinigt, um nun das Pöhlwasser zu bilden, beträgt nach der Generalstabskarte 756 m, während auf derselben für das Wirtshaus beim Patsch 649,6 m verzeichnet sind. Bereits vor Zweibach erschien der niederfallende Regen wie mit weißglänzenden Perlen untermischt, es waren die ersten langsam sich niedersenkenden Schneeflöckchen, und als ich den Fichtenwald hinter mir hatte, erblickte ich den zum Teil kahlen oder nur mit Gesträuch und jungen Pflanzungen bedeckten Hang zur Linken wie mit einem zarten weißen Flohr bedeckt. Unten im Grunde zeigte das Thermometer noch 4° R. Luftwärme an. Die Waldarbeiter aber, welche ich im Zweibacher Wirtshause antraf, hatten zeitig Feierabend gemacht. Sie berichteten, daß es weiter oben in der Gegend der Tellerhäuser bereits seit einigen Stunden geschneit habe und daß dort der Winter eingezogen sei. Hier sah ich noch ein Stück mit Kartoffeln bestandenes Ackerland. Weinige hundert Schritte aufwärts lag der Schnee auf den Fichten, die Straße wurde weiß, es schneite fortgesetzt, und als ich nach einer halben Stunde an den 910 m ü. d. M. gelegenen Tellerhäusern anlangte, hatte ich ein vollständiges Winterbild vor mir. Der bei völliger Windstille niedergefallene Schnee lag auf dem Wege bereits 5 bis 6 cm joch. Ein Reh, das vor den Tellerhäusern quer über die Straße lief, stand einige Augenblicke still, sah mich an, und da es merken möchte, daß nichts zu befürchten sei, verschwand es ruhig in dem schneeigen Dickicht.

Bei den ersten kleinen Wohnhäusern des Waldortes Tellerhäuser, in welchem Sperlinge erst vor wenigen Jahren beobachtet wurden, liegt rechts an der Straße ein offener Brunnen, der aber zum Winter des vielen Schnees wegen überdeckt wird. Als ich vorüber ging, war dies noch nicht geschehen, die Leute hatten ja noch nicht den Eintritt des Winters erwartet. Eine Frau holte eben Wasser, und da das Schneien immer heftiger wurde und die Dämmerung begann, gab sie mir auf meine Anfrage ihren erwachsenen Son mit, der mich bis zum Neuen Hause begleiten sollte. Um denselben zu erwarten, trat ich auf kurze Zeit in das einfache Gasthaus von Barthel ein. Seit einigen Jahren haben hier wohl keine Studenten mehr Quartier genommen, um sich in ländlicher Stille zum Examen vorzubereiten, wie noch in der 1884 erschienenen 4. Auflage von Berlets Wegweiser steht; deshalb wurde wohl auch diese Bemerkung in der 5. und 6. Auflage aus den Jahren 1888 und 1889 nicht wieder aufgenommen. Aber andere der Ruhe und Erholung bedürftige Personen, die dem geräuschvollen Getriebe der großen Stadt entrückt sein wollten, z. B. einzelne Lehrerinnen, haben sich in den letzten Jahren hier auf Wochen niedergelassen. Große Ansprüche darf man freilich in den Tellerhäusern nicht machen, dafür aber lebt man dort auch billig, und alles fand ich gut und reinlich. Als ich während des vergangenen Sommers dort einmal einkehrte, zahlte ich für eine Tasse Kaffee, der nicht schlechter war als in vielen Bahnhofsrestaurationen, 3 hartgesottene Eier und ein Glas gutes Unterwiesenthaler Bier 42 Pfennige, und die inzwischen verstorbene Wirtin, eine Tochter des früheren Besitzers Poller, sagte mir auf mein Befragen, daß sie im vorigen Jahre von zwei Damen, die bei ihr gewohnt, wöchentlich für das (freilich einfache) Zimmer mit 2 Betten 6 Mark erhalten habe. Jetzt führt der Mann mit seiner erwachsenen Tochter die Wirtschaft.

Doch ich setze die Wanderung fort. Mit meinem inzwischen erschienenen Begleiter, einem ungefähr 20jährigen Burschen, ging ich durch den immer mehr wachsenden Schnee aufwärts. Ringsum herrschte tiefe Stille, der Schnee fiel leise nieder, die Äste und Zweige der Fichten trugen bereits bedeutende weiße Lasten, und von Zeit zu Zeit mußte auch der Schnee von dem immer schwerer werdenden Regenschirme abgeschüttelt werden, bis dies endlich nicht mehr anging, denn er war angefroren. So gelangten wir noch 1½ stündigem Aufwärtssteigen an dem Neuen Hause oder dem Gasthause am Fichtelberge (Meereshöhe 1080 m) an. Hier lag der Schnee bereits 12 bis 14 cm hoch. Nach kurzer Rast in der sehr warmen Küchen- und Wohnstube, wo uns zwei Glas nach böhmischer Weise zubereiteten Kaffees erquickten und wo ich auch meinen Begleiter verabschiedete, trat ich dann den Schluß meiner Wanderung abwärts nach Oberwiesenthal an. Von dem Gipfel des vordern Fichtelbergs war bei der eingetretenen Dunkelheit vorher nichts zu sehen gewesen, als wir an der alten Straße den von da aus nach ihm abzweigenden Fahrweg erreicht hatten, von dem Gipfel des hintern Fichtelbergs, sowie von dem gegenüber liegenden Sonnenwirbel war auch jetzt nichts zu sehen-, zur Rechten gähnte mir nur der tiefe Zechengrund entgegen, undeutlich erblickte ich das Haus am „kalten Winter”, und zur Linken stieg eine weiße Fläche, der Südabhang des hintern Fichtelbergs auf, um sich nach oben allmählich in dem Schneeflockengewirr ohne bestimmte Grenze zu verlieren. Es war hier oben und auch in Wiesenthal, das ich nach ¾ stündigem Marsche erreichte, vollständiger Winter. Am andern Morgen sah ich nur noch das grüne Laub der auf dem Marktplatze stehenden Bäume stellenweise durch die Schneedecke schimmern, und die Dächer entledigten sich wieder ihrer Lasten, die donnernd niederstürzten. Sonst aber erblickte das Auge ringsum nur das weiße Schneekleid, das, wie ankommende Gottesgaber versicherten, in ihrer Stadt (1017 m Meereshöhe) bis zu 30 cm hoch liegen sollte und unter dem wie bei Wiesenthal teilweise noch das Grummet (und bei letzterer Stadt selbst der Hafer) begraben lag. Eine gute Wegstunde tiefer, bei Neudorf und Kretscham-Rothensehma war dagegen nur wenig Schnee gefallen, und als ich am 3. Oktober daselbst anlangte, blühten noch auf den freilich sonst kahlen Wiesen vereinzelte Spätlinge des scharfen Hahnenfußes, des Augentrosts und rauhharigen Löwenzahns neben zahlreichen, freilich auch mitten im Winter noch nicht erstorbenen Gänseblümchen oder Maßliebchen, und auf Brachäckern konnte ein Strauß von farbigen Stiefmütterchen gepflückt werden.

So behauptete sich noch der Herbst standhaft gegen den eindringenden Winter. Hier Leben, wenn auch allmählich ersterbend, dort das weiße Leichentuch, das plötzlich Hingestorbenes und die letzten Lebensspuren, welche der Herbst zurückgelassen hatte, verdeckte. Von dem Fichtelberge leuchtete der Schnee nieder, scharf hob sich besonders der steile Weg, welcher vom Roten Vorwerk nach seinem Gipfel führt, durch seine weiße Decke von dem Walde ab, und der Vierenweg an der rauschenden weißen Sehma, im Sommer so herrlich, kann im Winter eine Vorstellung von einem Stege über die Hochalpen verschaffen, wie mir seufzend Leute versicherten, welche am Morgen des 3. Oktober auf ihm unter großen Mühen im tiefen Schnee emporgestiegen waren.

Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 9. J„g. Nr. 11 u. 12, v. November und Dezember 1889, S. 105 – 107.

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