Der Emmler-Weg

Eine Gemeinde gewinnt einen Prozeß und erschließt dadurch einen alten Wanderweg aufs neue.

Von Dr. W. Fröbe, Schwarzenberg

Am 23. November 1922 richtete der damalige Vorsitzende im Wegeausschuß des Erzgebirgsvereins, Schuldirektor M. Wappler, ein Schreiben an die Amtshauptmannschaft Schwarzenberg folgenden Inhalts: „Es sei mir gestattet, die Aufmerksamkeit der geehrten Amtshauptmannschaft auf die Erhaltung des Emmlerweges zu lenken. Allgemein gilt in Schwarzenberg, Raschau, Scheibenberg und anderen Orten der dortigen Gegend, daß der Emmlerweg früher die Verkehrsstraße zwischen Schwarzenberg und Scheibenberg gewesen und jetzt ein herrenloser, aber öffentlicher Weg sei. Auf alle Fälle ist er gegenwärtig einer der schönsten, staubfreien und aussichtsreichen Höhenwege, der Spaziergängern und Wanderern erhalten werden müßte. In der Nähe der Gifthütte verschwindet er, da ihn die anliegenden Feldbesitzer mit einackern. Die geehrte Amtshauptmannschaft wird leicht feststellen können, ob dieses Vorgehen der Anlieger ein widerrechtliches ist.”

Der Schreiber dieser Eingabe hat damals nicht geahnt, daß aus seinen Zeilen sich ein Berg von Akten, Verhandlungen, Verhören, Forschungen und Entscheiden zweier deutscher Gerichte entwickeln würde. Daß die geforderte Feststellung nicht „leicht” war, wie Wappler vermutete, wird durch die Tatsache beleuchtet, daß sie erst am 10. Juli 1936 – d. h. 14 Jahre später – gerichtlich endgültig entschieden worden ist!

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Das mit x bezeichnete Stück zeigt den wieder freigelegten Teil des Emmler-Weges

Aus verschiedenen Gründen wird es unsere Leser interessieren, etwas Näheres darüber zu erfahren. Zunächst, daß kein x-beliebiger Weg einen so heißen Kampf auslöst, liegt auf der Hand. Wenn ein so wandererfahrener Mann wie Wappler ihn als einen der schönsten Höhenwege bezeichnet, dürfte das an sich genügen. Ohne Zweifel hat er Recht. Dort, wo die Straße von Scheibenberg westlich nach Scheibe zu sich lenkt, zweigt er rechts ab und führt zunächst in nordwestlicher, dann fast genau westlicher Richtung zwischen Feldern hindurch am Hange des langgestreckten Bergrückens entlang, der Schwarzbach und Mittweida von einander trennt. Er vermittelt einen wunderbaren Ausblick in die Flanke der Hundsmarter, schließt den Blick auf die hochabstürzenden Hänge der Leithen an der Pöhla auf und gewährt einen umfassenden Überblick über die Raschauer und Grünstädtler Fluren, die gerade hier wie selten in dieser Höhenlage die Fächer der ehemaligen Feldbreiten der ersten Siedler abzeichnen. Vor der Talsenke grüßen die Gemeinden Raschau und Grünstädtel. Zur Rechten aber schweift das Auge des Wanderers über die waldreichen Höhen um Schwarzbach, Waschleithe und den Spiegelwald. Nach etwa 1½stündigem Marsch erreicht man den Katharinenfelsen und fällt nun in die Senke, die der Mühlweg als Verbindung zwischen Raschau und Langenberg fast rechtwinklig zu unserer Marschrichtung quert.

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Der wieder freigelegte Emmler-Weg (Aufnahme: Hertel, Raschau)

Dann führt er linde zur Höhe in uraltes Bergbaugebiet. Hier in der Nähe des sogenannten „Knochen” liegt die gewaltige Höhlung eines uralten Kalkbruches. Überall begegnet man Haldenstürzen alter Gruben, von denen eine noch mit dem Namen „Allerheiligen” bekannt ist. Hier steht ein ehemaliges Vitriolwerk, die „Gifthütte”. Hast du dich durch dieses mit Hochwald besetzte Gebiet hindurchgefunden, führt dich der Weg fast genau westwärts nach Wildenau. Gerade hier, noch eh‘ du in das alte, ehemals dem Kloster Grünhain gehörige Dorf, jetzt ein Stadtteil Schwarzenbergs, hinabgelangst, empfängt dich vielleicht die bedeutendste Fernsicht, die der Weg überhaupt bietet: vor dir liegt die Talaue des Schwarzwassers mit ihren mächtigen Kuppen des Gehringsberges und des fernen Burkhardwaldes und den volkreichen Siedelungen Schwarzenberg, Neuwelt und Sachsenfeld.

Lohnt sich der Emmlerweg schon wegen seiner überraschenden Fernsichten, so gewinnt er obendrein noch dadurch das Herz jedes Wanderfreundes, daß er ihn in ungestörte Einsamkeit fernab vom modernen Verkehr durch die weiten Auen führt, von denen nur der Gesang der Lerchen, das Rufen des Hähers und im Herbst der Ruf der Kühe hütenden Dorfjungen aufsteigt. Ein Irrtum, wenn im Laufe des Kampfes um ihn, einer der streitenden Parteien behauptete, er sei nur für Schulmeister und Spitzbuben da! Wer immer unser westliches Erzgebirge in all seiner herben Schönheit erschauen will, kein Weg wird es ihm besser enthüllen, als dieser uralte Höhenweg des „Silberemmler”.

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Blick vom Emmlerfelsen nach St. Katharina (Aufnahme: Wilhelm Vogel, Schwarzenberg)

Unbestritten lag bis in unsere Zeit hinein der Weg vom Scheibenberg bis an den sagenumwobenen Katharinenfelsen jedermann offen und zugänglich. Gerade dort aber, wo er am „Allerheiligen” aufstieg und das Wäldchen verließ, um den Blick nach Westen zu aufzuschließen, hörte er urplötzlich auf, um 300 m weiter westlich erneut aufzutauchen. Welch ein Wunder: du siehst noch die alte Radspur im Rain, du siehst ihn drüben durch die Fichtenschonung nach Wildenau zu weiterführen, und doch soll er auf den dazwischenliegenden 300 Metern in Wasserdampf aufgegangen sein! Man kann es nicht glauben.

Um diese 300 Meter ging der Streit.

Um das Rätsel zu klären, gab man zunächst den Heimatforschern das Wort.

Sie gaben folgendes an: Der Emmler kann kein bloßer privater Wirtschaftsweg sein. Dazu führt er zu zielgerecht zwischen den Fluren verschiedener Gemeinden hindurch. Er erstrebt ganz offensichtlich die Scheibenberger Höhe und ist ohne Zweifel einer jener alten Höhenwege, wie sie unsere Altvordern ausschließlich anlegten, um den Überschwemmungsflächen unserer Bäche zu entgehen. Aber noch mehr: wenn der Widerpart behauptet, der Emmler gehe am „Allerheiligen” zu Tal, so widerspricht dem die Tatsache, daß gerade am Knochen im 16. Jahrhundert ein reger Abbau von Eisenstein im Gang war und daß der Kurfürst August mit dem alten Sachsenfelder Hammer auch die diesem gehörigen Grubenanteile am Emmler kauft. Das letzte Stück des Emmlerweges ist aber just die direkte Verbindung zwischen dem Hammer und den Gruben am „Knochen”! Außer dem Hammer zu Sachsenfeld bezog bereits vom Jahre 1535 ab – wie urkundlich bezeugt wird – der alte Schwarzenberger Kugelhammer seinen Eisenstein und seinen Kalk von dort. Man gelangt geradezu zu dem zwingenden Schluß, daß das Gebiet rings um „Allerheiligen” infolge seiner Fündigkeit der Ansatzpunkt der Wegeführung am Emmler entlang war. So wie in Richtung Sachsenfeld westlich, so fuhr man die Eisenerze auch nach Osten zu den in Scheibe und Annaberg gangbaren Hämmern. Und so erklärt sich auch der an der „Gifthütte” rechtwinklig zur Ost-Westrichtung des Emmlerweges abbiegende Weg hinab ins Mittweidatal. Er war die Verbindung der Eisengruben mit den Pöhlaer Hämmern, nicht aber, wie die Gegner glaubhaft machen wollten, die ursprüngliche Führung des Emmlers. Nimmt man noch den ebenfalls vorhandenen Weg ins Schwarzbachtal hinzu, so wird das Gebiet um den „Knochen” und „Allerheiligen” geradezu der Ausstrahlungspunkt eines Wegenetzes nach allen Seiten der Windrose! Seltsam wäre es also, wenn just das umstrittene Stück – 300 m eingeackerter Weg – in diesem Wegesystem fehlen sollte.

Selbst der alte Christian Lehmann konnte als Zeuge vernommen werden. Er erzählt uns in seiner „Kriegschronik der Teutschen” (1670), daß der General Holk 1633 seine Kroaten von Schwarzenberg nach Wildenau kommandierte „auf die Straße uff den Emmler herauf”, weil er den in Raschau Widerstand leistenden Bauern und Bergleuten in den Rücken fallen wollte. Nun hätten zwar die überlieferten 300 Reiter zur Not auch 300 Meter Feld überquert; allein, der Befehl Holks zeigt uns, daß Ortskundige ihm diesen bei Wildenau aufsteigenden Weg geradezu anwiesen, um möglichst überraschend in den Rücken der die Talstraße Verteidigenden zu kommen.

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Blick vom Emmler-Weg ins Schwarzbachtal; im Hintergrund der Scheibenberg (Aufnahme: Albert Schramm, Schwarzenberg)

Dann gab man den Kartographen das Wort. Die an sie gestellte Frage lautete: Wo und wann ist die umstrittene Wegeführung kartenmäßig festgelegt?

Ihre Antwort war wie folgt: In den Jahren 1835 – 1845 fand in Sachsen eine allgemeine Grundstücksvermessung statt. Die Raschauer Flur wurde 1839 bearbeitet. In den Urausfertigungen dieser alten Flurkarte ist der Emmlerweg als steuerfreier Kommunikationsweg nach Scheibenberg aufgeführt. Er trägt die Bezeichnung „Emmlerstraße”. Allein, sie läßt nicht erkennen, ob der Weg über die strittigen Flurstücke führt. Das bedeutet keinen Beweis, daß der Weg nicht trotzdem bestand. Denn Fußwege und selbst Fahrwege sind im allgemeinen nicht im Flurbuch verlautbart und auf der Flurkarte nicht dargestellt, wenn das Wegeland den anliegenden Grundstücksbesitzern gehörte. Auch auf der Wildenauer Flurkarte von 1839 fehlt der Weg. Doch ist er auf den Karten der Landesaufnahme von 1790 – 1876 nachweisbar. Erst auf dem in der Zeit nächstfolgenden Belegstück einer Karte aus dem Jahre 1893 ist dasselbe Stück des Weges, das auch heute auf dem Meßtischblatt Nr. 37 Schwarzenberg fehlt, nicht mehr vorhanden. Es ist also in den Jahren 1876 – 1893 verschwunden. Die älteste Karte, die den Emmlerweg auch auf den umstrittenen Flurstücken deutlich aufzeigt, ist die Ingenieur- und Meilenkarte von 1790. Er führt dort von der von Scheibenberg kommenden Straße nordwärts auf die Höhe, trifft nördlich von Markersbach mit dem zweiten von Scheibenberg kommenden Höhenweg zusammen und führt am Emmlerfelsen vorbei bis zur Mühlstraße. Zwei von hier aus führende Wege schneiden sich zwischen „Allerheiligen” und „Segen Gottes”, und von diesem Schnittpunkt aus ist der am „Knochen” nach Wildenau vorbeiführende Weg genau kenntlich. Er führt ohne Unterbrechung über die strittigen Grundstücke bis nach Wildenau.

Soweit die Heimatforscher und Kartenkundigen. Allein beide konnten mit ihren Ausführungen die entscheidende Frage, ob dieser Weg öffentlich sei, nicht klären.

So mußte das Verwaltungsgericht der Kreishauptmannschaft Zwickau, an die die Sache im Wege des Parteistreitverfahrens nunmehr gelangte, für seine Erwägungen noch zu Zeugenvernehmungen schreiten, um mit deren Hilfe die Frage der Öffentlichkeit zu klären. Es ergab sich, daß von den vernommenen 15 Zeugen nur von fünf bekundet werden konnte, daß ein getretener Fußweg über die strittigen Grundstücke geführt habe. So kam das Verwaltungsgericht zu der Überzeugung, daß der fragliche Weg doch nicht mehr dem öffentlichen Verkehr gedient habe und wies im Zusammenhang mit dem Versagen des Kartenmaterials die Klage als kostenpflichtig ab.

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Blick vom „Knochen” am Emmler-Weg auf Raschau und Hundsmarter (Aufnahme: Wilhelm Vogel, Schwarzenberg)

Allein, die an der Erhaltung des Weges Interessierten, vornehmlich die Gemeinde Raschau und der Erzgebirgsverein, gaben sich mit dem Entscheid nicht zufrieden. Bürgermeister Gärtner von Raschau erhob im Mai 1935 Berufung gegen das vom Verwaltungsgericht gefällte Urteil, nachdem alle gütliche Verhandlung mit den Beklagten gescheitert waren. Es zeigte sich zudem, daß die den Emmlerweg benutzenden Wanderer immer wieder den aus der Natur sich ergebenden Wegezug benutzen wollten und sich um die ungewöhnlich stabil und ausgedehnten Stacheldrahtverhaue herum einen Weg bahnten.

Der 1. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts hob am 10. Juli 1936 auf die Berufung hin das Urteil des Verwaltungsgerichts der Kreishauptmannschaft Zwickau auf und entschied, daß über die Grundstücke der Beklagten ein öffentlicher Weg führte. Er ging dabei von folgenden Erwägungen aus: Der Augenschein lege nahe, daß der Weg auch über die strittigen Grundstücke geführt habe. Sieben der vernommenen Zeugen hätten dies glaubhaft bekundet. Für diese Zeugenaussage spreche auch die Tatsache, daß der mit erheblichen Kosten errichtete Stacheldrahtzaun nur den Zweck haben könne, Wanderer, die die gegebene Fortführung des Weges suchten, vom Betreten des Grundstückes abzuhalten. Wenn auch Karten nach der ständigen Rechtssprechung des Oberverwaltungsgerichtes keinen Beweis für die Öffentlichkeit eines Weges liefern könnten, so mache doch die Ingenieurkarte von 1790 zusammen mit der durch die geschichtlichen Erörterungen gewonnenen Einsicht als wahrscheinlich, daß es sich bei dem Emmlerweg um einen uralten Höhenweg handle, der frühzeitig dem öffentlichen Verkehr gewidmet war und Ende des 18. Jahrhunderts noch als öffentlicher Weg galt. Im Zusammenhang damit gewinne eine Zeugenaussage besonderes Gewicht, die sich auf die Angaben eines früheren Gemeindevorstandes stütze, der nach seiner amtlichen Stellung über die Wegeverhältnisse genau unterrichtet gewesen sei. Nach Auffassung dieser Amtsperson war der Weg öffentlich. So müsse beim Zusammenhalten der Überlieferung, der Kartenangabe von 1790 und der Zeugenaussage der Beweis für die Öffentlichkeit des Emmlerweges als erbracht angesehen werden. Ein öffentlicher Weg aber könne nicht durch Sperrmaßnahmen der Grundstücksbesitzer, sondern nur durch ein behördliches Verfahren beseitigt werden.

Mit dem Spruch des Oberverwaltungsgerichts war ein 14 Jahre lang währender Streit zugunsten der Öffentlichkeit des Weges entschieden. Der Emmlerweg ist wieder frei! Mögen die Wanderer, die seine Schönheit genießen, allen den Männern Dank wissen, die ihn der Allgemeinheit zurückgewannen!

Quelle: Glückauf! Zeitschrift des Erzgebirgsvereins. 56. Jg. Nr. 11 v. November 1936, S. 167 – 171.
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