Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 48 – Sonntag, den 28. November 1926, S. 1
Um den Ausgang des vorigen und den Anfang dieses Jahrhunderts trieb im Erzgebirge ein Wilddieb und Raubschütz sein Wesen, der zwar der Schrecken aller Forstleute, im Uebrigen aber ein harmloser und guter Mensch und darum mit dem gemeinen Mann gut‘ Freund und bei ihm wohlgelitten war. Daß er in Wäldern, die ihm nicht gehörten, und in Revieren, die niemand seiner Aufsicht unterstellt hatte, unablässig und als wenn es sein müßte, dem Jagdhandwerk oblag und manchem kapitalen Hirsch, der Rehe und Hasen ganz zu schweigen, das Lebenslicht ausblies, das tat den Leuten nicht weh, manch‘ Bäuerlein wußte es ihm sogar Dank, daß er auf diese Weise seine Felder von Gästen befreite, die nicht geladen waren, denn der Wildstand war damals in unserem Gebirge noch ein großer und der Schaden, den das Wild in den Korn- und Krautfeldern anrichtete, kein geringer. Also rechnete man es dem Wildschützen nicht hoch an, daß er es im Punkte Mein und Dein nicht so genau nahm, zumal, was sonst über sein Thun und Treiben verlautete, nicht nur nicht gegen, sondern sogar für ihn sprach. Von seinem Mut und seiner Kühnheit wurden Wunderdinge erzählt. Oft entzog er sich durch Geistesgegenwart und Gewandtheit den größten Gefahren, der Armen und Bedrängten nahm er sich an, und Räuber und Spitzbuben, zu welch‘ letzteren er freilich Wilddiebe nicht rechnete, litt er nicht in seinen Wäldern, sondern legte ihnen gründlich das Handwerk. So ward der Wildschütz Karl Stülpner, denn dies war sein Name, dem Volke sogar zum Helden und lebt bis heute in der Erinnerung der Leute fort. Karl Stülpner wurde 1762 in Scharfenstein bei Wolkenstein geboren. Sein Vater war ein Müller ohne Mühle, sein Großvater mütterlicherseits ein Förster. Vom letzteren scheint er das Meiste in seinem Wesen, namentlich aber seine leidenschaftliche Vorliebe für den Wald und das ungebundene Umherschweifen in demselben, sowie die unbezwingbare Lust zur Jagd geerbt zu haben. Als der Vater schon im 8. Jahre nach des Knaben Geburt starb, ohne etwas Anderes zu hinterlassen, als das kleine hart an der Zschopau unweit der dort über den Fluß führenden, damals hölzernen und überdachten Brücke liegende Häuschen samt den darauf befindlichen Schulden, Hypotheken, die, wie man zu sagen pflegt, bis zur Feueresse hinanreichten, da ward Karl Stülpner bald ein Freiherr. Die Mutter war gut und fromm, aber schwach; was hätte sie auch mit dem zwar gutmütigen, aber etwas wilden Knaben, um den schon der Vater sich nicht viel hatte kümmern können, weil er Tags über seiner Arbeit nachgehen mußte, groß anfangen können? Karl lief die meiste Zeit in den Wäldern umher und suchte dort Beeren und Pilze, sowie im Herbst und Winter Reißholz, was in der Ordnung war, daneben stellte er aber auch Waldvögeln, Eichhörnchen usw. nach, was er füglich hätte lassen sollen. Es kann aber niemand gegen seine Natur.
Als er 9 Jahre alt war, nahm ihn ein Verwandter, der Förster Müller in Ehrenfriedersdorf, zu sich und übertrug ihm die Aufsicht auf den Vogelherd. der Förster hätte keinen besseren Gehilfen anstellen können. Der Knabe konnte aber noch mehr. Als einst der Förster ein Reh schießen sollte, wußte sich der Junge eine Flinte zu verschaffen und kam dem Förster zuvor, indem er für ihn den Bock erlegte. Wenn er aber gedacht hatte, sich damit Dank beim Herrn Vetter zu verdienen, so hatte er fehlgeschossen; dieser nahm ihm vielmehr diese Eigenmächtigkeit sehr übel und ließ ihn mit dem „Schulz von Birkenholz“ Bekanntschaft machen. Der Förster von Stollberg aber, der gerade zu Besuch da war, lobte den jugendlichen Jäger und verehrte ihm sogar einen Gulden. Diese Anerkennung war der Anfang von Stülpners Unglück.
Bald kehrte Karl Stülpner zu seiner Mutter zurück, um ihr im Haus und sonst zur Hand zu gehen. In diese Zeit fielen die Hungerjahre 1771 und 72. Der kaum 10jährige Knabe suchte sich durch allerhand leichte Arbeit ein paar Groschen zu verdienen, ließ sich aber auch schon bei den in der Gegend stattfindenden Jagden mitbrauchen, denn er hatte sich schon damals im Schießen ziemlich geübt. Als Karl Stülpner eingesegnet und 16 Jahre alt geworden war, brach der bayrische Erbfolgekrieg aus und er wurde Soldat. Das war freilich ein junger Rekrut, aber da er kräftig und abgehärtet war, so ertrug er alle Beschwerden leicht, und da er auch Ehrgefühl, Rechtschaffenheit und Ordnungsliebe besaß, so zeigte er sich schon damals als ein recht guter Soldat, mehr noch in späteren Jahren, wo er wieder ausgehoben und dem damals in Chemnitz stehenden Regiment „Prinz Maximilian“ einverleibt wurde.
Die Offiziere des Chemnitzer Regiments hatten in der Nähe ein Revier gepachtet. Dies beging Stülpner, in dem man bald den tüchtigen Weidmann erkannt hatte, in deren Auftrag. Aber er nahm es mit den Grenzen nicht genau. Die Tafel der Herren Offiziere war damals freilich mit Wildpret gut besetzt, aber nach der Herkunft desselben durfte man nicht fragen. Bald liefen Anzeigen gegen Stülpner ein. Man mußte ihn in eine andere Garnison legen, und als er auch dort das Wildern nicht ließ, wurde er 1784 gefänglich eingezogen und ihm der Prozeß gemacht. Es gelang ihm aber aus dem Gefängnis zu entfliehen und nach Böhmen zu entkommen, wo er sich zuerst als Hausknecht in einem in der Nähe von Sebastiansberg gelegenen Gasthof und später als Forstgehilfe bei einem Grafen Nostitz verdingte. Von dort kam Stülpner als Forstgehilfe zu einem ungarischen Grafen in der Nähe von Debreczin; weil er sich aber mit den übrigen Leuten des Grafen nicht vertragen konnte, denen er es übel nahm, daß sie ihn immer nur den Ketzer schalten, so ging er auch dort wieder fort und durchwanderte nun unter mancherlei Abenteuern halb Ungarn, Oesterreich und Böhmen, hernach Bayern, Tirol und die Schweiz, endlich Baden, Hessen und Hannover.
In Hannover ließ sich Stülpner bei den Dragonern anwerben, riß aber schon nach einem Jahr wieder aus und zwar mit Pferd, Sattel und Zaumzeug. So ward Stülpner zum Deserteur und Dieb. In Hof in Bayern verkaufte er das Pferd und die Ausrüstung für 100 Taler; ein Teil des Erlöses mußte ihm dazu dienen, sich als schmucker Jäger einzukleiden, das andere wollte er seiner Mutter bringen, denn es zog ihn mächtig, diese wieder zu sehen. Acht Jahre waren seit seinem letzten Auszug aus Scharfenstein verflossen, da glaubte er, es sei Gras über die Sache gewachsen und man habe ihn in der Heimat vergessen; also kehrte er nach Scharfenstein zurück.
Die Freude des Wiedersehens mit der geliebten Mutter dauerte aber nicht lange. Die Kunde von der Rückkehr Stülpners drang bald überall hin und, als er nun gar in den nahen Wäldern wieder zu wildern anfing, so fahndete man auf ihn. Da ward Stülpner nun förmlich zum Wild- und Raubschütz, und zwar trieb er sein unerlaubtes Gewerbe in solchem Umfang und mit solcher Frechheit, daß er fast sämtliche erzgebirgischen Reviere von der böhmischen Grenze bis herunter in die Oederaner und Stollberger Gegend, im Ganzen aber 21 Reviere in Sachsen und dazu die Forsten der böhmischen Herrschaft Rothenhaus, ganz ungeniert beging. Den Forstbeamten war das freilich ein Greuel und die Behörden suchten ihn dingfest zu machen. Die Bauern aber waren es zufrieden und hielten es sogar heimlich mit dem Wildschützen, denn er war sonst ein guter Kerl, der sich abgesehen vom Jagdfrevel weiter nichts zu Schulden kommen ließ. Einige besondere Taten machten ihn vollends beliebt und ließen ihn als Helden erscheinen.
Einmal nahm er sich einer armen Frau, die im Walde Holz lesen wollte, gegen die Härte des allzu strengen Försters an und zwang diesen, ihr den Korb, den er ihr in der Wut zertreten, mit 10 Groschen zu ersetzen. Ein ander Mal schlug er mit noch zwei Genossen ein ganzes Heer von Gerichtsdienern und Dörflern, die mit alten Flinten, Säbeln, Heugabeln, Dreschflegeln u. a. bewaffnet, gegen ihn aufgeboten worden waren, in die Flucht. Manchmal auch machte er sich nützlich, indem er Diebesgesindel, das in der Nähe der Dörfer sich herumschlich, verscheuchte. Als aber die Obrigkeit ernstliche Anstalten machte, ihn aufzuheben, da ging er wieder außer Landes und nach Bayern, fiel aber dort preußischen Werbern in die Hände und ward in ein in Spandau garnisonierendes Regiment gesteckt. Mit diesem Regiment zog Stülpner an den Rhein und nach Frankreich, an dessen republikanische Regierung Oesterreich und Preußen den Krieg erklärt hatten. Bei Grand Prée machte sich Stülpner verdient, indem er die Entdeckung einer unmenschlich blutigen Tat herbeiführte. In einem Dorfe hatten die fanatischen Bewohner zwanzig preußische Soldaten heimlich überfallen, abgeschlachtet und die Leichen in einem Keller versteckt. Stülpner kam den Verbrechern auf die Spur und lieferte sie dem strafenden Arm der Gerechtigkeit aus. Der Herzog von Braunschweig, welcher der Oberkommandierende der preußischen Truppen war, belohnte Stülpner und ließ das Dorf umzingeln, durch hineingeworfene Pechkränze in Flammen setzen und gänzlich niederbrennen.
Der Feldzug endete unglücklich, die Franzosen fochten unter Pichegru glücklich gegen die Preußen, die sich zurückziehen mußten. Als sie vor Weißenburg lagen, desertierte Stülpner wieder und ging, sich für einen heimkehrenden Invaliden ausgebend, über Darmstadt und Frankfurt a. M. durch Kurhessen und Thüringen nach Scharfenstein zurück, wo er sogleich das frühere Leben als Wild- und Raubschütz wieder aufnahm. In diese Zeit fallen die merkwürdigsten und aufsehenerregendsten seiner Taten.
Einmal sah ein Oberförster am Fürstenberg bei Grünhain Stülpner im Wald auf einem abgehauenen Baumstamm sitzend, seine Doppelbüchse an eine Tanne gelehnt. Die beiden Männer boten sich gegenseitig einen guten Abend und Stülpner erklärte dem Förster, daß es ihm leid tue, daß dieser heute umsonst habe gehen müssen, denn der Hirsch, den er zu schießen vermutlich ausgegangen sei, sei soeben von ihm erlegt worden. Er wolle ihm aber einen anderen Stand anweisen, wo er gewiß bald zum Schuß kommen werde. Den Förster empörte diese Frechheit und daß Stülpner so ruhig blieb. Er gedachte ihm zu überlisten, griff nach der an der Tanne lehnenden Büchse Stülpners und sagte: „Ja, wie wäre es denn, wenn ich mir diese Büchse hier ausbäte?“ „Sie steht zu Ihren Diensten,“ erwiderte Stülpner ruhig lächelnd, „denn sehen Sie, hier habe ich noch zwei andere, die ebenso gut und sicher, wie meine treffen.“ In der Tat sah der Oberförster, als er nach der Richtung hinsah, in welcher Stülpner mit dem Finger hindeutete, hinter ein paar jungen Fichten noch zwei andere Wildschützen stehen, die ihre Büchsen auf ihn angelegt hatten. Da mußte er Stülpner wohl in Ruhe lassen. Stülpner aber bat sich erst noch Feuer von ihm aus und ließ ihn dann ruhig gehen. Ein ander Mal traf Stülpner einen Forstgehilfen schlafend auf dem Anstand, er weckte ihn mit den Worten: „Du hast einen guten Anstand gewählt, Kamerad. Du hättest aber bald die Zeit verschlafen; hier wechselt ein Spießer und ich muß einen liefern; Du wirst also so gut sein und mit mir den Platz wechseln, stelle Dich bei der dürren Fichte unten am Bach an, wo Du nicht vergeblich warten wirst.“ Natürlich geschah alles, was Stülpner gesagt.
Im Zöblitzer Revier schoß Stülpner einmal einen Hirsch an und sah ihn zusammenbrechen. Als er auf ihm kniete, um ihn zu genickfängen, sprang der Hirsch plötzlich wieder auf und nahm Stülpner, der noch darauf saß, gegen 1200 Schritt weit über das freie Feld mit. Als Stülpner sah, daß der Hirsch auf einen tiefen Abgrund zujagte, sprang er herunter, sprengte aber dabei eine Stange von dem Geweih des Hirsches ab, an welcher er sich angehalten. So entkamen beide glücklich der Gefahr, Stülpner und der Hirsch.
Viel besprochen wurde im Erzgebirge s. Zt., wie Stülpner einmal sieben Jäger, auf die er zufällig gestoßen, als er mit nur zweien seiner Gefährten im Begriff war, erlegtes Wild über die Grenze nach Böhmen zu schaffen, durch den bloßen drohenden Ton seiner Stimme und seine höhnenden Worte so in Schrecken gesetzt habe, daß sie sich ruhig von ihm entwaffnen und nach Hause schicken ließen. Es mögen darunter allerdings auch einige alte Burschen und sog. Sonntagsjäger gewesen sein.
Nicht besser als jenen Jägern ging es den Schützen aus einem kleinen gebirgischen Städtchen, welche, angelockt durch den Preis, der endlich auf die Ergreifung Stülpners ausgesetzt worden war, vereinigt gegen ihn auszogen. Ihr Führer war ein Schneider, einer von der Art, von denen das Märchen erzählt, daß sie Sieben auf einen Streich erlegen. Stülpner sah die furchtbare Armee gegen sich anrücken, trat ihnen aus einem Hinterhalt mit gespannter Büchse unversehens entgegen und rief mit donnernder Stimme: „Wollt ihr Euch packen, oder ich gebe Feuer!“ Da stoben die Schützen, der Schneider allen voran, auseinander und stürzten sich den steilen Abhang hinunter eilend in die Zschopau, in der eben Hochwasser war, um sich ans andere Ufer zu retten. Nur der Schneider, der klein von Wuchs war, getraute sich nicht in den Fluß, an dessen Ufern er ängstlich hin und her trippelte. Stülpner ließ ihn erst ein Weilchen zappeln, dann lief er gutmütig hinzu, nahm ihn auf seine kräftigen Arme und trug ihn durch das Wasser bis auf das jenseitige Ufer, wo er ihn mit den Worten niedersetzte: „Er mag künftig bei der Nähnadel bleiben und sich nicht wieder in solche unberufene Dinge mengen.“