Von Dr. Köhler.
Die Seen des Erzgebirges, auf welche ich die Aufmerksamkeit lenke, sind nicht idyllische, von Fischen belebte Wasserbecken, in denen sich schroffe Felswände spiegeln, auf welchen sich lustig Kähne im Winde schaukeln und die es gleich blauen Augen dem Gebirgswanderer anthun, daß derselbe, hat er sie nur einmal geschaut, mit unauslöschlicher Sehnsucht an ihre Schönheit zurückdenkt. Gleichwohl fehlt den meisten unserer Gebirgsseen nicht gänzlich ein Hauch der Posie. Es ist eine Poesie ähnlich derjenigen, wie dem zivilisierten Wanderer auf den nassen Tundren des Nordens, oder wie uns etwa auf ausgedehnter Heide entgegentritt, Wehmutstimmungen und das Gefühl des Alleinseins hervorrufend. Wo liegen aber diese Seen unsers Gebirgs? Die Leser werden dies bereits ahnen, wenn ich zunächst auf ähnliche Erscheinungen im Fichtelgebirge hinweise und eine Stelle aus der interessanten Schrift Dr. H. Gruners, die „Opfersteine Deutschlands“ (Leipzig 1881) anführe: „Bis auf die Gipfel des Ochsenkopfs und Schneebergs empor ziehen sich unzählige, mehr oder minder große Versumpfungen, kleine Vertiefungen, im Volksmunde Lohen oder Moose genannt. Vordem waren sie wohl Anstauungen von Wasser, kleine Gebirgsseen, dadurch entstanden, daß die muldenförmigen und Sattel-Austiefungen des Granitgebietes durch eingeschwemmten Thon undurchlässig wurden.“ Aber noch deutlicher erkennen wir die Natur wenigstens einesteils unserer erzgebirgischen Seen, wenn ich auf Erscheinungen im Schwarzwalde hinweise, die Dr. Ferdinand Senft in seinem Buche über „die Humus-, Marsch-, Torf- und Limonitbildungen (Leipzig 1862) mit den Worten Bronns beschreibt, so daß ich mir zur Klarstellung unserer heimatlichen Verhältnisse nicht versagen kann, wenigstens eine Stelle daraus mitzuteilen. „Endlich wird die Vermoorung bis zur Bildung großer quellenloser See’n mitten in Torflagern gesteigert, welche nicht selten auf dem Würtembergischen wie dem Badischen Schwarzwalde unter immer gleichen Verhältnissen auf den höchsten Kuppen des Gebirgs emporschwellen. So die zwei wilden See’n, der Hornsee, der Murmelsee, der Hohlosee u. a.“ Es folgt hierauf eine Beschreibung des wilden See’s und seiner Umgebung. Nachdem man beim Höhersteigen aus der Region des mit Kiefern gemengten Weißtannenbestandes, der immer kümmerlicher wird, gekommen ist, erblickt man vor sich eine unabsehbare, nur hin und wieder mit einer Knieholzkiefer bewachsene Oede; es ist das Moos des Wildensee’s. Vaccinium- und Sphagnumarten, Flechten, Wollgras und andere Torfpflanzen bedecken den Boden, den man, oft bis über das Knie einsinkend, durchwaten muß und auf dem umgebrochenes Knieholz einige Ruhepunkte bietet, bis man, was aber nur bei trockner Wittrung möglichst ist, an den See selbst gelangt. Derselbe hat nicht über 25 Fuß Tiefe, obgleich ihn das Volk für unergründlich hält; sein Wasser ist laugenartig bräunlich und nährt weder Frosch noch Fisch; keine Quelle liefert ihm Zufluß, sondern er steigt und fällt nur mit der größern oder geringern Menge der atmosphärischen Niederschläge. — Mit diesem Hinweise auf die Beschaffenheit eines Schwarzwaldsee’s gewinnen wir zugleich eine allgemeine Vorstellung von einem Teile der Seen unsers Erzgebirgs; ja man könnte die eben angeführte Beschreibung des Wilden See’s und seiner Umgebung fast wörtlich einer Beschreibung der letzteren zu Grunde legen.
Steigt man vom Hammerwerke Morgenröte über das kleine, nur 10 Häuser zählende Walddorf Sachsengrund immer an der großen Pyra bis zum schwarzen Teiche aufwärts und wendet man sich von da auf breiter Holzstraße eine kurze Strecke nordöstlich, um auf der zweiten Schneuße südwärts bis zur böhmischen Grenze abzubiegen, so gelangt man nach wenig hundert Schritten an den großen Kranichsee. Ein anderer Weg dorthin führt von der Haltestelle Wilzschhaus an der Aue-Adorfer Bahnlinie durch das Thal der Wilzsch zunächst nach dem rauh und einsam gelegenen Karlsfeld, und von dort nach Weiters Wiese, vier oder fünf kleinen Waldhäusern, wo man am besten thun wird, einen Führer nach dem Kranichsee mitzunehmen. Ueberall umgiebt uns dunkelgrüne Fichtenwaldung, bis wir zum Bereich des großen Moorlagers gelangen, welches den oben angeführten Namen eines See’s trägt. Wir befinden uns daselbst auf 920 bis 930 m Meereshöhe; westlich erhebt sich der Boden an der Grenze dieses auf Granituntergrund liegenden Moors bis nahezu auf 945, östlich dagegen in der Stangenhöhe auf 961 m. Schreiten wir vorsichtig an dem Grenzgraben vorwärts, so haben wir bald rundum die niedrigen Stämme der Sumpfkiefer oder des Knieholzes (Pinus obliqua Sàuter), und der Boden, den wir seiner schwammigen Beschaffenheit wegen nur mit großer Vorsicht betreten dürfen, wird vorherrschend von bleichgrünen Torfmoosen gebildet, auf und zwischen denen graue Säulchenflechten (Cladoniaarten), die Sumpfheidelbeere (Vaccinium aliginosum L.), Moosbeere (Oxycoccos palustris Pers.), die poleyblättrige Gränke (Andromeda polifolia L.), die schwarze Krähenbeere (Empetrum nigrum L.), das scheidige Wollgras (Eriophorum vaginatum L.) u. a. sich in die Herrschaft teilen. Zu beiden Seiten des Grenzgrabens, besonders aber auf böhmischen Terrain, stoßen wir zwischen den schwarzgrünen Inseln der mit Flechten bedeckten „Kiebiken“, wie man in der Gegend die Sumpfkiefern nennt, auf mehrere kleine trübe Wasserlachen, in denen sich wohl kaum ein Frosch seines Lebens freut und Wasserkäfer nur vereinzelt angetroffen werden. Unter dem heißen Sonnenstrahl schwimmen Blasen auf dem braunen Gewässer, das auch noch da über den Füßen zusammenfließt, wo wir auf festen Grund zu treffen hofften. Im Herbste lagern schwere, feuchte Nebel auf dem Moor; beklommen steht der Wanderer in der tiefen Stille und froher atmet er erst wieder auf, wenn ihn der hohe Fichtenwald umgiebt, und ihm zur Seite das lebendige Wasser rieselt. Dort oben sammelt sich geräuschlos das Himmelswasser, die Torfmoose saugen wie ein Schwamm begierig Regen, Tau, Nebel und Schneewasser ein, um es allmählich an die drei daselbst entspringenden Flüßchen abzugeben und sie zu speisen; nach Sachsen fließen aus dieser Vorratskammer, welche z. T. durch gezogene Gräben behufs der Trockenlegung geschädigt wurde, die große Pyra und Wilzsch, nach Böhmen dagegen die Rohlau ab. Hier im Kranichsee’r Moor begegnen wir ähnlichen Erscheinungen wie den aus dem Schwarzwalde geschilderten, wenn sich auch nicht mitten im Torf ein einziger großer See, sondern mehrere kleine Wasserbecken bildeten; und doch sind letztere vielleicht nur die Reste einer früheren ausgedehnten Seebildung. — Wandern wir dann im Geiste auf dem Kamme des Gebirgs ostwärts weiter bis zum böhmischen Städtchen Gottesgab, wo in unmittelbarer Nähe der höchste Berg Sachsens, der 1205 m Meereshöhe erreichende Fichtelberg, und der ihn noch um 35 m überragende böhmische Keilberg, die bedeutendste Erhebung des gesamten Erzgebirges, vor uns aufsteigen. Zwischen Gottesgab und dem basaltischen Spitzberge dehnt sich auf einer durchschnittlichen Meereshöhe von 1000 m das Moorlager aus, dem wir den zweiten Besuch zugedacht haben. Stehen wir mitten in der flachen Bodensenkung, auf welcher während der Sommerwochen von den Arbeitern in der jedem Hause des genannten Städtchens zugemessenen Breite von 1½ bis 2 m der schwarze Torf, die „Kohlenerde“, wie derselbe in einer älteren erzgebirgischen Chronik heißt, um ca. 55 Kr. Stecherlohn für das Tausend Ziegeln abgegraben wird, dann stimmen wir der Meinung der Geologen bei, daß hier die Stätte eines früheren See’s sei. Wird doch das über 10 bis 12 Hektar ausgedehnte Moor heute noch der „Seesumpf“ genannt. Unter der 4 bis 6 m mächtigen Torfmasse liegt zunächst ein grauer Lehm, welcher wieder als Untergrund ein Sandlager hat, das nach einzelnen Entblösungen und Reithalden zu urteilen, in früherer Zeit von der Zinnseifenarbeit angegriffen wurde. Auf der Oberfläche des Moors wachsen zwischen Torfmoosen die gemeine Heide (Calluna vulgaris), der Sumpfheidelbeerstrauch (Vaccinium uliginosum), Wiesenknöterich (Polygonum Bistorta L.), die Swertie (Swertia perennis L.) u. a., an kleinen Wassertümpeln das Blutauge (Comarum palustre L.), und überall erheben sich wie dunkelgrüne Inseln die Sträucher der Sumpfkiefer, dicht zusammengedrängt, in deren unteren niederliegenden Aesten die schwere Schneelast des langen Winters ausgeprägt ist, während der Mittelstamm höher strebt, ohne jedoch zur vollen Entfaltung zu kommen. Hie und da treffen wir die gemeine Birke (Betula alba L.) an, weiter nach dem Spitzberge zu aber begrüßen wir auf ihrem einzigen Standorte im Erzgebirge ihre nordische zwerghafte Schwester, die Betula nana L. Das ist die Vegetation auf dem Grunde eines früheren See’s, welcher seinen Abfluß im jetzigen Schwarzwasserthale, vielleicht auch, freilich in wesentlich geringerem Maße, durch den Geschiebegrund nach Böhmen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dieser Seesumpf nur der Teil eines ausgedehnteren flachen Sees, welcher sich noch westlich vom Spitzberge zwischen Hengstererb und Seifen ausbreitete, wie die daselbst auftretenden vorbasaltischen Süßwasserablagerungen schließen lassen. Die Vermoorung ist hier nicht wie im Schwarzwalde bis zur Seebildung gesteigert worden, sondern in großer Ausdehnung finden wir hier die Vertorfung eines ehemaligen Seebeckens, ähnlich den am Anfange dieses Artikels erwähnten Lohen oder Moosen im bayrischen Fichtelgebirge. Uebrigens verweisen wir schließlich diejenigen, welche sich noch weiter für die Geologie dieses Teiles unsers Erzgebirges interessieren, auf Laubes Geologie des Böhmischen Erzgebirges. I. (Prag 1876).
Nun aber steigen wir hinauf zum Keilberge, auf dessen Gipfel, der „hohen Wiese“, jetzt ein turmartiges Gerüst einen lohnenden Umblick gestattet. Wenn wir von den Sonnenwirbelhäusern den gewöhnlichen Weg nach diesem Aussichtspunkte einschlagen, so bemerken wir kurz vor letzterem zur linken Hand einen gegen 40 bis 50 Schritt im Umfang haltenden Tümpel, der nur in der Mitte freies Wasser zeigt, an den Rändern dagegen mit Niedergräsern, Wollgras (Eriophorum vaginatum) und Torfmoosen dicht bewachsen ist. Vor 60 Jahren mochte dieses Wasserbecken mehr wie jetzt den Namen eines See’s verdienen; die Vermoorung ist in dem genannten Zeitraume jedenfalls bedeutend fortgeschritten. In August Schumanns Lexikon von Sachsen (7. Band, p. 704) lesen wir nämlich über diese Oertlichkeit: „Auf der hohen Wiese giebt es einen 100 Schritt im Umfang haltenden See, welcher des moorigen Bodens halber stets Wasser behält und dasselbe unmittelbar aus den Wolken bekommt. Da er um 4 bis 500 Ellen höher als der Fichtelsee auf dem fränkischen Fichtelgebirge liegt, so sieht man, wie irrig bisher letztere für das höchste stehende Wasser in Norddeutschland gehalten wurde; selbst die Teiche unter der schlesischen Schneekuppe liegen nicht völlig so hoch.“ Der kleine See auf der hohen Wiese des Keilbergs wird jedoch wohl bald dasselbe Schicksal wie der genannte Fichtelsee haben. Gegenwärtig ist letzterer eine „Seelohe“ zwischen der östlichen steilen Bergwand des Ochsenkopfs und der Farnleiten, und vor hundert Jahren lebten alte Leute in der Gegend, welche behaupteten, in ihrer Jugend den Wasserspiegel des See’s, der nach der Sage unglaublich tief und fischreich war, gesehen zu haben. (V. Horn, das Fichtelgebirge und die fränkische Schweiz, 1873. p. 17.) Jedenfalls ist es eine interessante Erscheinung, auf dem höchsten Punkte des Erzgebirges einer kleinen seenartigen Wasseransammlung zu begegnen; dieselbe wurde von einer kleinen Einsenkung und der Wasserundurchlässigkeit des aus dem hier auftretenden Glimmerschiefer hervorgegangenen Bodens bedingt.
Christian Lehmann beschreibt in seinem „historischen Schauplatz derer natürlichen Merkwürdigkeiten in dem Meißnischen Ober-Erzgebirge (Leipzig, 1699)“ p. 205 den „thörichten See“, eine Stunde über Satzung. Er liegt nach ihm „an einem wilden rauhen Ort, ist ins Geviert 30 Schritte breit und lang, mit jungen Kiefern, und der Pfuhl mit rotem Moos bewachsen; das Wasser gehet einer Ellen hoch darüber ohne Abfluß.“ Weiter wird von Lehmann mitgeteilt, daß umher auf eine halbe Meile lang nichts als eitel sumpfig Land sei, in dem kein rechter Baum aufwachsen könne, weil „alles verwimmere und verbutte.“ Eine neuere Nachricht in Schumanns Lexikon von Sachsen (11. B. 1824. p. 716), welche sich jedoch unverkennbar auf Lehmanns Beschreibung stützt, giebt dem See 150 Ellen im Umkreise und sagt, daß im 30jährigen Kriege viele Menschen in jene unwirtliche Gegend geflohen seien und darnach viele Wunderdinge von dem See erzählt hätten. Es war im Spätherbst 1879, als ich Satzung besuchte und von da aus mit dem Wirte im Erbgericht und einem zufällig zugleich mit mir Einkehr haltenden Herrn nach dem südlich vom Orte an der Landesgrenze gelegenen „Kriegswalde“ wanderte. Wir befanden uns auf einer weiten Moorfläche mit Knieholzkiefern bestanden; beim Vorwärtsschreiten sanken die Füße oftmals in den trügerischen Boden, da und dort war ein Wasserloch oder eine kleine Torfgrube; doch den „thörichten See“ kannten weder mein Wirt noch andere Personen in Satzung und Reitzenhain, bei denen ich früher und später nachfragte. Nur ganz dunkle Erinnerungen von seinem einstigen Dasein schienen vereinzelt aufzuleben, als ich seiner Sagen erwähnte. Offenbar war ich in den Bezirk gekommen, wo er lag, oder vielleicht noch liegt, jedenfalls jetzt vollständig mit Moorboden ausgefüllt. Die ganze Oertlichkeit zwischen Satzung und dem böhmischen Städtchen Sebastiansberg erinnert durch ihre Moorlager mit den ausgedehnten Knieholzbeständen an den Kranichsee im westlichen Gebirge, so daß ich nicht anstehe, auch den thörichten See nach seiner Entstehung dem Kranichsee und den eingangs erwähnten Seen im Schwarzwalde zur Seite zu stellen. Die Moorbildung hat schließlich wieder das kleine Wasserbecken, den See, überwuchert, oder, wie dies offenbar am Kranichsee der Fall ist, durch Abzugsgräben ist der Boden zum Teil trocken gelegt worden, um einem geregelten Waldbetriebe dienstbar zu werden. — Was aber den „thörichten See“ bei Satzung vor den übrigen Seen unsers Erzgebirgskammes auszeichnet, das sind die mit ihm verknüpften Sagen vom Wassermann, welche uns der bereits genannte Historiker Lehmann (a. a. O. p. 205 und 206) so anmutig erzählt und die auch Gräße in seinen Sagenschatz des Königreichs Sachsen (Nr. 535.) aufgenommen hat.
Aus dem Mitgeteilten dürfte sich demnach ergeben, daß die Charakterisierung des Erzgebirges als eines Gebirgs ohne jede Seebildung in ihrer Allgemeinheit nicht richtig ist; auch unser Gebirge hat seine seeartigen Wasserbecken, oder besser: es sind wenigstens deren Stätten mit dürftigen Ueberresten noch vorhanden, ohne daß man zu ihrem Nachweise auf ältere geologische Perioden zurückzugehen braucht. Ja, auch die Seen am Fuße des Gebirgs fehlten nicht, wie uns die Nachrichten von dem jetzt trocken gelegten Kommerner See bei Seestadtl und einem See zwischen Kralupp und Brunnersdorf, mit dessen Trockenlegung man 1782 begann, erzählen.
Vielleicht giebt diese Skizze Veranlassung, den besprochenen Erscheinungen noch weiter nachzugehen und insbesondere die Oertlichkeit, wo sich der „thörichte See“ bei Satzung befand, sicher festzustellen. Eine Aufgabe der böhmischen Erzgebirgsvereine aber dürfte es sein, das noch vorhandene urkundliche und volksmundliche Material über die ehemaligen Seen von Seestadtl und Brunnersdorf zu sammeln und weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 1. Jg. Nr. 2 v. 15. Februar 1881, S. 14 – 18