Dies ist die Ruine, die sich 2110 Fuß über der Ostsee auf dem nördlichen Vorsprung einer Anhöhe im östlichen Erzgebirge Sachsens erhebt, hinter welcher in sanfter Einsattelung, noch 2000 Fuß über dem Meere, das nach dem Stadtbrand 1869 zum dritten Male verjüngt aus der Asche erstandene Amtsstädtchen Frauenstein liegt, 3 Wegstunden von der böhmischen Grenze, an der Chaussee von Freiberg, welches 800 Fuß tiefer 4 Stunden, nach Teplitz, welches 7 Stunden entfernt ist. An Umfang sowohl, als an erhaltener Mauerhöhe mit 3 Türmen, dem dicken Märten, der Lärmstange etc. dürfte sie unter allen derartigen Ruinen Deutschlands eine der ersten Stellen, vielleicht eine der nächsten nach der Heidelberger und Mannsfelder einnehmen. Die festungsähnliche, auf jähem Porphyrfelsen bald nach Errichtung der Mark Meißen aus gleichem Gestein zum Schutz der Grenze aufgeführte Burg, aus deren Brechung um das Jahr 1438 sie entstanden ist, war ursprünglich ein Burggrafenlehn jener Markgrafschaft, bis der damalige Kurfürst von Sachsen, als Sieger über den letzten Burggrafen, nach harter Fehde sie nebst dem Amt Frauenstein in Besitz nahm und die Oekonomie nebst Jurisdiction verpachtete. Alles Nähere besagt ein aus der Bahn’schen Ortschronik u. a. Unterlagen gezogenes Schriftchen des vorigen Stadtschuldirektors, für 20 Pf. bei dasigen Buchbindern und dem Hausmann des Schlosses zu haben. Letzterer führt auch die Schlüssel zur Ruine. Von weitem sichtbar, gewährt schon der ohne Schlüssel zugängliche „Zeisigstein“ vor ihr (so genannt nach dem letzten darauf hingerichteten Burghauptmann), vollständiger ihr erstgenannter breiter Turm, ein hohes Oblongum, durch eine innere Wendeltreppe besteigbar und oben mit einem geräumigen Podium versehen, dessen überragende Umfassungsmauern hinlänglich vor Schwindel schützen, eine großartige Aussicht. Man überblickt fast die ganze Dresdner Kreishauptmannschaft und sieht darüber hinaus in alle drei übrigen Sachsens: gegen Morgen die Lausitzer Berge, gegen Mitternacht bei klarem Wetter den Colmberg bei Oschatz, gegen Abend die riesigeren Höhen bei Annaberg und Oberwiesenthal. Von Städten ist aber nur Freiberg, von Schlössern sind bei halbwegs günstiger Nachmittagsbeleuchtung die Albrechtsschlösser bei Dresden, seltner Moritzburg, leichter Stolpen, bei Vormittagsbeleuchtung Augustusburg, über den fast stets glänzenden Spiegel der Großhartmannsdorfer Teiche hin, zu erkennen. Bei jeder neuen Besteigung macht man neue Entdeckungen, mit und ohne Fernrohr. Gegen Mittag wird die Aussicht begrenzt durch die Waldungen, die nur von der Blöße bei Böhmisch Moldau und Uebelessen unterbrochen, den nahen Grenzgebirgskamm krönen. Nur die Zinnen von Lichtenwaldstein ragen aus ihnen ein wenig noch hervor. Auch der Ruinenberg selbst ist auf den drei ersterwähnten Seiten bewaldet; am westlichen Abhang mit Laubhölzern, die spätestens in den ersten Junitagen ihr frischgrünes Gewand anlegen, während das Geröll des Bodens sich mit Anemonen, Waldmeister u. a. Kindern der Flora bedeckt; gegen Mitternacht und Morgen vorwiegend mit immergrünen Nadelhölzern, hier zunächst von einigen großmütterlichen Buchen verdeckt. Erneuerte und jüngst verlängerte Promenaden mit Ruhebänken führen durch diesen „Park“, nächst der Ruine des Frauensteiners Stolz und seiner Omladina Tummelplatz, seiner Schwärmer Zuflucht vor Stürmen, zu andern Felspartieen, dem „Horeb“ etc. Mancher schwindsüchtiger Niederländer hat sich auf rechtzeitigen Rat seines Arztes, hier binnen vir bis sechs Wochen des Juli und August die Gesundheit geholt. Dazu passendes Unterkommen verschafft Dr. med. Röber bei sich oder in Bürgerhäusern und Gasthöfen. Zu den Füßen hat man am Horeb das schon von der Ruine und vom Zeisigstein sich am nächsten präsentierende schmucke Dörfchen Kleinbobritzsch, Silbermanns Geburtsort (das Haus trägt über der Thür eine steinerne Gedenktafel mit Goldschrift), am Bobritzschbach aus Obst- u. a. Laubbäumen hervorlugend. Weiterhin überschaut man die langgestreckten Dörfer Ober- und Niederbobritzsch, Pretzschendorf und den Anfang von Colmnitz; gegenüber Häuser vom hohen Röthenbach; gegen Morgen das fast immer beleuchtete saubere Bergdörflein Amtsdorf, dahinter die „Tellkoppe“ jenseit der östlichen Weißeritz; näher das hier eingepfarrte Reichenau mit seinem Berggebäude, einer Silberfundgrube.
Zu Spaziergängen empfiehlt sich Sommerfrischlern und Curgästen das lauschige Gimlitzthal zwischen der Rats- und Walkmühle, die Lärchenallee im Hofebusch, der Wiesenthalweg vom Schafsteig oder von den letzten Felsen unter dem Park nach Kleinbobritzsch, der Friedrich-August-Stolln; ganz nahe das „Buttertöpfchen“ und der Weiße Stein; weiter der Burgberg bei Burkertsdorf (1 Std.), die Lehnmühle in der Hartmannsdorfer Schweiz mit dem Königstein, einer Felsenpartie im Waldthal der westl. Weißeritz (1½ Std.). Botaniker und Mineralogen finden außer dem Gewöhnlichen manche seltenere Ausbeute.
Wäre der beschriebene Punkt nur etwas leichter für fernwohnende zu erreichen! Doch es giebt viel mühseliger zu erklimmende, deren Besuch nicht so lohnend ist. Am bergigsten ist der Weg hierher von Dippoldiswalde, wegen der zwischen liegenden tiefen Flußthäler und entsprechenden Uferhöhen. Fast ebenso lang der von der Bahnstation Klingenberg (zwischen Tharandt und Freiberg), wozu eine täglich zweimalige Personenpost (früh und abends) über 2 Stunden Fahrzeit braucht. Näher liegen die Stationen und Haltestellen Mulda (klimatischer Kurort seit 1880), Niedernassau und Bienmühle. Gute Fußgänger und Bergsteiger legen den gerädesten Weg von Niedernassau (Oelmühle an der oberen Freiberger Mulde) in einer Stunde zurück. Im Bahnhof Bienmühle findet man täglich abends Fahrgelegenheit, doch nur für 4 Personen. Auch Klingenberg hat keine unbeschränkte Personen-Annahme. Am sichersten bestellt man brieflich Plätze und für mehrere Personen Geschirre beim hiesigen Posthalter oder beim Gastwirt Rohland hier.
Zu wünschen wäre: 1) eine Aussichtsscheibe auf der Ruine, wenigstens für die Sommermonate; 2) Wiedereinrichtung der Restauration im „Parkschlößchen“. Ob 3) auf dem „Sandberg“, südlich der Stadt, wo ein Gradmesser steht, ein Hain mit einer Büste des Königs Johann angelegt werden soll, ist noch nicht ausgemacht.
Wie auf allen so hervorragenden Höhen, sind Wind und Nebel hier keine Seltenheit. Arx und Oppidum sitzen oft in Wolken, wie Zeus und Juno auf dem Olymp. Am freiesten davon pflegt der Monat August und die erste Oktoberhälfte zu sein. Doch giebt es auch in den übrigen Monaten aussichtsfreie Tage, bald mehr, bald weniger.
Das Städtchen bietet keine namhaften Sehenswürdigkeiten, außer etwa dem Schloß mit seinem Portal und Gerichtssaal-Eingang und der im schlichten Hausstyl neu aufgerichteten Stadtkirche mit schlankem Normalturm (vom Oberlandbaumeister Hänel), Kreuzbach’scher stimmenreicher Orgel und verschiedenen Weihegeschenken z. B. Statuetten im Altar, Gemälden darin und an den Altarplatzwänden, namentlich auch gelungene Modellfiguren Luthers und Melanchthons, einem Geschenk Sr. Maj. des Königs Albert aus dem Nachlaß eines Dresdner Bildhauers.
Frauenstein, im März 1881.
Lic. Dr. Hasse, Pfarrer und em. Sup., Mitglied des Dippoldiswalda-Frauensteiner Zweigvereins.
Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 1. Jg. Nr. 4 v. 15. April 1881, S. 31 – 34