Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 127. Jahrgang, Nr. 7, 11. Februar 1934, S. 1
Von Dr. Ernst Gehmlich, Zwickau.
(5. Fortsetzung.)
„Dies gab einen Tumult im ganzen Hause. Den meisten mußte es Raserei erscheinen”. „Wir begaben uns dann in einen großen Saal, der ringsum von verstorbenen Herren des Rats behangen war. Statt der Betten war ein gewaltiges Streulager eingerichtet, was mindestens an fünfzig Personen aufnehmen konnte; lauter Anordnungen der Messer zur Ehre. Gestiefelt und gespornt warfen wir uns darauf.” Schon 2 Uhr nachts brachen sie auf, ununterbrochen rieselte leise Regen nieder. „Wir setzten uns bald in den nicht bedeckten Wagen. Mäntel führten wir als Fußreisende nicht mit uns. Zu haben waren durchaus keine, was wir auch aufboten. Die Not ist erfinderisch. Es mußten alle Pferdedecken zusammengeholt werden, die man nur aufbringen konnte. In diese wickelten wir uns ganz vertraut ein und genossen Schutz und Wärme, spielten aber wunderbare Figuren. Kaum waren wir vom Hofplatze, so rief der Kutscher: es ist dunkel, hol eine Laterne. Nun mußte der arme Teufel neben den Pferden marschieren. So ging es Schritt für Schritt weiter. Tollkühnere Reise ward sicher seit vielen Jahren nicht unternommen. Wir kannten die Gegend nicht so, als wir sie bei unserer Rückreise einsahen. Zwischen ungeheuren Felsen, wo ein Fehlschritt uns in die ewigen Tiefen stürzte; in pechdunkler Nacht und einem anhaltenden Regen zogen wir weiter.” An der böhmischen Grenze sollten wir „Pässe aufzeigen, an die keiner gedacht hatte. Münze half uns durch. Es war eine schauerliche Nacht. Ein dicker Wald; das Unbekannte der Wege; der fast unzugangbare Weg; die ungeheuren Berge bildeten ein furchtbares Gemälde”. Endlich hellte sich das Wetter auf. „Ungeheure Massen, wie mein Auge sie nie erblickte, lagen kühn und herrisch hinter uns. Die etwas verdünnten Regenwolken umflorten die Gipfel der Felsen. Der Wind ging lebhafter. Dies gab ein herrliches Schauspiel. Die niedrigen Wolken jagten wie ganze Heere über die Berge. Sie strichen dem gewaltigen Rücken der Felsen vorbei; denn die Spitzen derselben hatten sich in die grauen Luftgewänder eingewickelt. Es sah majestätisch aus, wenn eine lange dichte Wolke neben der Bergkette hinschwebte. Die Felsen dampften und die einzelnen Gebüsche und Bäume guckten dann und wann schüchtern aus dem Schoße der Erdriesen hervor.”
In Karlsbad kam die kleine Reisegesellschaft am frühen Vormittag an, schon 2 Uhr nachmittags verließ sie es wieder. Der berühmte Badeort erschien Kosegarten klein und so einförmig, „daß man sich innerhalb vier Wochen in Gottes Namen dem Teufel ergeben kann.” Aus der Schilderung der Heimfahrt heben wir, um uns nicht zu weit aus dem Gesichtskreise Annabergs zu entfernen, nur heraus, was Kosegarten in und bei Joachimsthal erlebte. Schönes Wetter war eingetreten, und so konnte man das erhabene Bild des Erzgebirges, wie es sich auf der böhmischen Seite dem Blicke darstellt, voll genießen. „Die Luft war völlig heiter. Ein lauer Wind strich durch die Bergreihen. Jetzt befanden wir uns ganz in der Gemütsverfassung, die wunderbare Natur zu betrachten. Die gewaltigen Schichten von Erd- und Steinklumpen; die einzelnen Kolosse, welche wie Massen von Damiurgen hingeschleudert zu sein scheinen; „das Wilde in der Natur; die Nebelströme, welche noch immerfort an den Bergrippen hinschwammen, unterhielten mich unendlich. Solche hohe Berge hatte ich noch nie gesehen. So groß und zugleich mannigfaltig offenbarte sich mir die Natur nicht – es sei denn, daß ich vom Meeranblick spreche, welcher bei weitem an erhabener Einfachheit diese Naturschönheiten übertrifft. Hier ward ich von der mannigfaltigen Größe weggezogen; dort beim Anscharen des Meeres ergreift mich die Unendlichkeit, wofür der Maler keinen Pinsel und der Dichter keine Worte hat.” Schon bei Schlackenwerth ist die Natur „ungemein wild und herrisch. Sie kündigt sich als die Königin des Menschen an, der mit allen seinen Kräften nichts gegen sie vermag. Wir trafen wieder in Joachimsthal ein. Es ward Abendmette gesungen und ich versäumte nicht, hineinzugehen. Die ganze Gemeine sang sehr einmütig und andächtig. Sie wiederholten immerfort folgende Strophen: „Wieviel Glieder sind am Menschen, wieviel Sterne sind am Himmel.” Es war wahrscheinlich ein Lied zum Lobe Gottes. Die Melodie war gefällig und der Takt etwas geschwinder. Da atmete eine Ruhe und Zuversicht aus den Stimmen und Blicken der Menschen, daß ich mich kaum der Tränen enthalten konnte. Es rührte mich diese Zuversicht um so mehr, da hier eine schreckliche Armut herrscht. Der Bergbau nahm seit zwei Jahren ab; es ist Bergsitte, daß die Bergleute ihren Lohn nicht bekommen, bis sie Erz gewinnen. Sie müßten im Fall des Treffens eines tauben Bergganges verhungern oder verzweifeln, wenn sie nicht durch ihre Frauen gerettet würden. Diese klöppeln nämlich Spitzen, verdienen durch dieses mühsame Geschäft etwas Geld, womit sie ihre Ehemänner ernähren, bis jenen wieder ein glücklicher Stern winkt. Vom Ackerbau und Vieh weiß man hier fast gar nichts. Die Frauen sitzen tagaus und -ein in den Stuben und haben deswegen ein bläßlich weißes Ansehen und eine zarte, aber krankhafte Art, wie man sie bei den feinsten Stadtdamen nur antrifft, die sich keinem Lüftchen aussetzen. Die Männer liegen stets an die tausend Fuß unter der Erde. So hübsch die meisten Kinder aussehen, fanden wir fast alle Erwachsenen häßlich düster, abgehärmt und im höchsten Ausdrucke des Jammers. Dazu tritt die unbändige Furcht vor dem Eindringen der Franzosen ein 8), welche diese armen Seelen ungemein drückt und ihnen ihre letzten Hoffnungen zerstört. Diese Menschen nun singen zu hören zum Lobe Gottes mit der Innigkeit und Zuversicht muß den Gefühllosesten in Rührung versetzen. Ich kann nicht leugnen, selbst diese Worte schreibe ich nicht ohne Schmerz.”
„Joachimsthal selbst liegt am Rücken einer Berggruppe. Aber eine Stunde weiter hin befanden wir uns in einer Gegend, wo die Felsen sonderbar figuriert waren. Eine Masse, ganz abgeschnitten von den nächsten Bergen, stand wie ein Riegel der Schöpfung vor unsern Augen, daß man in der Tat sich so eine ungeheure Grotte des einäugigen Cyklopen denken möchte. Die Felsen drängten sich aneinander und noch immer war einer auf die Schultern des andern gewälzt, als wollten sie die Sterne ersteigen. Gewölbt und prachtvoll lagerten sie sich an dem Himmel und die großen Wälder sahen wie Pygmäen, wie Mückenschwärme aus. Besonders schön machte sich das Sonnenlicht. Schon von den Felsenhöhen überflügelt, warf der Spiegel der Spitzen die Strahlen in die Fichten und Tannen. Diese bestreiften die schlanken Masten so licht und feurig, als stände alles im Brande. Wunderbar schattiert, unnachahmlich von dem größten Künstler. Diese Malerei behält die Natur sich vor, wie auch sie nur solche Massen und Formen auf die Staffelei zu bringen versteht. Ein Berggemälde gewährt großes Vergnügen, aber was verschlägt dies gegen ein Anschauen solcher Gegenden oder gar der Alpen und der Kordileren – ich staune vor der Macht des Erhabenen, lege meine Hand auf den Mund und schweige.
Nicht mehr fern vom stolzen Fichtesberge, dämmerte schon der Abend. Jetzt erhob sich der Wind und Nebeldünste, auf Flügeln des Windes getragen, flogen feierlich, aber ungestüm, und doch so leise über die Höhen und Schluchten und Schründe, daß uns ein Schauer durchfuhr. Es war mir, als würden wir von feurigen Engeln verfolgt, die auf dem Nebelwagen mit schnellen Fersen des Windes hinter uns eindrangen, daß selbst der schnellste Galopp unserer Rosse ein Schneckengang dagegen blieb. Nicht lange und diese Nebelmassen schienen ihre Wohnung auf dem Felsen aufzuschlagen. Sie lagerten sich und zogen eine Burg um diese Paläste der Luft. Die weiten Golfe zwischen den Felsen wurden von Nebel angefüllt und es wiegte sich wie auf Meereswellen. Kalt und spröde sprach der Nebel uns an. Wir wickelten uns in die bekannten Vließe und erkannten jetzt die große Gefahr, welche in der letzten Nacht unser gedroht hatte. – Lebe wohl, du kühne und stolze Natur, – wenn dich die Zeit zerbröckelt, sind Jahrtausende in die Nacht gesunken und tausend Generationen verschlungen.” „Wir landeten in Wiesenthal heute mit vollem Abend an, mieteten einen Wegkundigen mit einer Laterne und zogen so noch zwei Meilen zu Fuße nach Annaberg zurück … Unsere Promenade war aber eine der beschwerlichsten, die ich je vollzog.” Da der Mond nicht schien, herrschte tiefe Dunkelheit, der sehr lange Weg, „ein unaufhörlicher höckerichter und steinichter Pfad”, führte durch finsteren Wald, bei dem Mangel an Licht regte nichts die Sinne an, und so wurden ihre Kräfte „allmählich ausgesogen”.
8) Oesterreich führte im Bunde mit Rußland und England den sogenannten „Koalitionskrieg” (1799 – 1801) gegen Napoleon. Nach seinen schweren Niederlagen bei Marengo und Höchstädt (im Juni 1800) mußte man den Einmarsch der Franzosen in die habsburgischen Länder fürchten.