Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 127. Jahrgang, Nr. 13, 25. März 1934, S. 1
Von Dr. Ernst Gehmlich, Zwickau.
(Schluß.)
So notwendig und nützlich die Beschäftigung der Kinder mit Spitzenklöppeln auch war, so demmte sie doch auf der anderen Seite auch ihre körperliche Entwicklung und vor allem ihre geistige Ausbildung. „Denn zu Zeiten, wo die Spitzen stark gesucht wurden, behält man die Kinder flugs Wochen lang aus der Schule. Ueberhaupt nimmt man die Klöppelmädchen des Verdienstes wegen immer gern so zeitig, als möglich, mit zur Kommunion, welche man leider! fast überall auf dem Lande für den Schlagbaum der Schultüre und alles Unterrichts ansieht. Die Lehrer büßen, wenn das Klöppeln recht schwunghaft geht, an ihrem ohnedem sehr dürftigen Gehalt durch das abwechselnde oder gänzliche Zuhausebehalten der Kinder aus der Schule beträchtlich ein, worüber leider nur zu oft und mit Recht bitter geklagt wird.” Das alles war möglich, da der allgemeine Schulzwang noch nicht eingeführt war (es geschah aber bereits 1805) und das Einkommen der Lehrer vielfach noch zum Hauptteile oder ganz in den Schulgeldern bestand. Um einen Ausgleich zwischen den Ansprüchen des Wirtschafts- und denen des Bildungslebens zu schaffen, richtete man sogenannte Klöppelschulen ein. In diesen verdienen die ärmsten Kinder während des Unterrichts, „sofern dieser es erlaubt Geld durch Klöppeln, eine löbliche Sitte, die man in vielen erzgebirgischen Schulen findet. Denn nicht alle Kinder können bei jeder Art des Unterrichts beschäftigt sein; auch lassen manche Lehrgegenstände recht füglich eine mechanische Beschäftigung zu. Das Ausfüllen solcher Stunden aber durch eine Arbeit, die dem Lehrer mehr Ruhe, dem Kinde einen kleinen Verdienst gibt und es zugleich an beständige Tätigkeit gewöhnt, ist ebenso heilsam als nachahmungswürdig. In der Tat gibt es einen recht erfreulich-industriösen Anblick, Knaben und Mädchen mit dem Buche in der Hand und mit dem Klöppelsack unterm Arm aus der Schule kommen zu sehen. Dergleichen sogenannte Klöppelschulen findet man in mehrern gebirgischen Orten. Außerdem gibt es auch Privatklöppelschulen, wo bejahrte Frauenspersonen bloß in Spitzenarbeit unterrichten.”
So trug man verschiedenen Lebensnotwendigkeiten Rechnung. Der Bewohner des Erzgebirges darf nach Engelhardts Urteil mit Stolz auf die Geschichte seiner Heimat blicken. Zuerst schuf hier der Bergbau eine Kultur, „die man besonders in Rücksicht auf manche Gegenden fast beispiellos nennen kann. Späterhin trug die Erfindung der blauen Farbe, die Fabrikation der Blech- und Eisenwaren, die Einführung der Spitzen- und der Schaf- und Baumwoll-Manufakturen, der Spinnerei und Weberei zum Steigen der Kultur bei, und so ward dann das Erzgebirge bald schnell, bald nach und nach, was es jetzt ist, nämlich ein Muster des Fleißes und der Betriebsamkeit.” An dieser glänzenden Kulturleistung hat Annaberg, die Hauptstadt des oberen Erzgebirges, ruhmvollen Anteil.
Im Jahre 1809 wanderte Johann Maaß aus Wittenberg durch das Erzgebirge. Er stammte aus Herrenhut, hatte nach wechselvollem Lebens- und Bildungsgange 1799 in Wittenberg eine Leihbibliothek errichtet, hier auch noch Theologie studiert. Wenn in erreichbarer Nähe etwas Merkwürdiges auf der Weltbühne geschah, wanderte er schnell nach solchem Schauplatze, um Zeuge der großen Begebenheit zu sein. So ging er 1809, als der Krieg zwischen Oesterreich und Napoleon ausbrach und Sachsen als Rheinbundstaat mit gegen den habsburgischen Nachbar kämpfen mußte, nach Dresden, das von österreichischen Truppen besetzt ward. Von hier aus unternahm er einen Streifzug in das Erzgebirge, das er schon 1807 hatte bereisen wollen, als er in Dresden weilte, um den Einzug Napoleons zu sehen. Damals hatte er sich mit einer Fußreise durch die Sächsische Schweiz begnügen müssen. Jetzt aber wanderte er über Freiberg, Oederan, Frankenberg, Chemnitz und Zschopau hinauf in das obere Erzgebirge. Was er sah, beschreibt er in seinem Buche „Meine Fußreisen im Jahre 1809 zur Zeit des österreichischen Krieges” (Wittenberg 1810). Am 18. Juli brach er von Zschopau auf nach Wolkenstein hin. „Je weiter man auf diesem Wege fortgeht, desto angenehmer wird die Gegend. Man kommt zuweilen an Gründen die mit schwarzem Buschwerk bewachsen sind und ein romantisches Ansehen haben, vorbei. Die Stadt Wolkenstein liegt auf einer felsigten Anhöhe, an welcher, auf dem weiten Wege nach Annaberg zu, ein schmaler Fußsteig sehr steil hinuntergeht.” Es war damals sehr kalt, man erzählte in Wolkenstein, daß es in Olbernhau sogar Eis gegeben hätte. „Der Weg von Wolkenstein nach Annaberg, wohin ich den 19ten meine Reise weiter fortsetzte, geht zum Teil durch solchen schwarzen Tannenbusch und Grunde durch; man trifft hier für das Auge die anziehendsten Partien an, und kann sich zuweilen von der Ansicht derselben kaum losreißen. Das Wiesenbad, anderthalb Stunden von Annaberg, ist ganz mit solchen, mit schwarzem Tannenholz bewachsenen Höhen umgeben, und hat ein düsteres romantisches Ansehen. Seitwärts von Annaberg liegt der Bielsberg, der ganz kahl ist und auf welchem die Franzosen zu Anfange des Krieges beständig ein Wachtfeuer unterhalten hatten.
Die Stadt Annaberg ist eine der schönsten und regelmäßigsten Städte Sachsens. Es hat in derselben alles einb schönes freundliches Ansehen. Man trifft schöne breite Straßen und einen großen Marktplatz an; die Häuser sind fast alle von einerlei Bauart, größtenteils 2 Gestock hoch, mit Schiefern gedeckt und mit gelber Farbe angestrichen, so daß sie ganz neu gebaut zu sein scheinen. Die Stadt ist auf den Abhang eines Berges gebaut, so daß man zum Teil sehr bergan, zum Teil sehr bergab steigen muß. Die Kirche liegt beinahe am höchsen; es ist dieselbe ein großes, ansehnliches Gebäude.” Als Theolog hatte Maaß für die Geistlichen der besuchten Orte ein besonderes Interesse; er versäumte es in Dresden nicht, eine Predigt des berühmten Oberhofprediger Reinhardt zu hören. So spendet er denn auch dem tüchtigen Annaberger Superintendenten Bretschneider, der hier erst seit einem Jahr wirkte und 1816 als Generalsuperintendent und Oberhofprediger nach Gotha ging, hohes Lob. Wenn es ihm auch reizte, den erzgebirgischen Bergbau kennen zu lernen, so konnte er aus Mangel an Zeit diesem Verlangen doch nicht in Annaberg genügen. Er sagt darüber nur: „Die Bergwerke um Annaberg liegen auf dem Wege nach Schlettau zu; sie beschäftigen ohngefähr gegen 1000 Personen.” Umso eingehender beschäftigt er sich in der Beschreibung Schneebergs mit der Arbeit und der sozialen Lage der Bergleute, wobei er auch bemerkt, daß deren Entlohnung ebenso niedrig sei wie die ihrer Annaberger Berufsgenossen. Noch eins hat ihn in Annaberg angenehm berührt: „Es hatte mich gefreut, bei meiner Ankunft allhier auf eine so humane Art im Tore behandelt zu werden; es herrscht hier nämlich auch die Gewohnheit, wie in Freiberg, daß ein dazu bestimmter Paßexaminator im Tore sitzt, der die Pässe der Reisenden durchsieht.” Freilich hatte man ihn früher einmal bei dem Einlaß in die Stadt Freiberg übel behandelt. Seine öffentliche Beschwerde darüber hatte ihn in eine Fehde mit dem Freiberger Wochenblatte verwickelt. Auf Grund solcher Erfahrung war er diesmal lieber an der Stadt vorbeigegangen.
Ein Rheinländer soll mit seinem Urteil über das ganze Erzgebirge, das aber über keinen Bezirk mit größerer Berechtigung gefällt werden kann als über den Annaberger, unsere Zeugenreihe abschließen. Er kam in geschäftlicher Angelegenheit nach Sachsen, führte ein Tagebuch über seinen Aufenthalt daselbst und veröffentlichte Mitteilungen daraus unter dem Titel „Auszug aus der Briefsache eines Rheinländers, seinen Durchflug durch Sachsen betreffend” in der Wochenschrift „Erinnerungsblätter für gebildete Leser aus allen Ständen” (Jahrgang 1816 und 1817), die der Zwickauer Buchhändler August Schumann (der Vater Robert Schumanns) herausgab. Er kleidet seinen Reisebericht in Briefform.
„Du weißt”, schreibt er, „daß mich Sachsen von jeher, nach meinem Vaterlande, am meisten angezogen hat, indem ich in diesem Lande meine Jugendjahre durchlebte und in Leipzig und Jena den ersten Grund zu meiner wissenschaftlichen Bildung legte, und die wenigen Kenntnisse, welche ich besitze, für die Zukunft daselbst sammelte, ja, du weißt auch, daß ich eine Zeit, jene in der frühesten Jugend durch voreilige Menschen erzeugten Vorurteile über den Charakter dieser Nation, der mir stets als zuvorkommend höflich, aber ebenso falsch, – als aufgeklärt und gebildet, aber ebenso schwankend und wortbrüchig war geschildert worden, nicht eher ablegen konnte, als bis mich hundert Beispiele und Proben zu meiner Freude vom Gegenteile überzeugt hatten.” Er besuchte alle in Sachsen liegenden Schlachtfelder des Krieges von 1813, freute sich, daß die Spuren der Kämpfe in Stadt und Land bereits ausgetilgt waren, bewunderte den König und sein Volk wegen des Gleichmutes, mit dem sie ihr Unglück ertragen, und der „fast grenzenlosen Anstrengungen”, mit der sie sich aus „drückender Armut und endloser Not” wieder emporgearbeitet hatten. Die anerkennendsten Worte aber findet er zum Preise des Erzgebirges und seiner Bewohner:
„Nun bin ich im Erzgebirge die Kreuze und Quere herumgestreift. Eine schöne wildromantische Gegend, eine herrliche, kräftige Natur! Schroffe Urfelsen hier und da mit Gebüsche bewachsen, Wälder von Laub- und Nadelholz, reißende Bergströme, alles malerisch gruppiert und dem Pinsel eines Salvators 11) würdig; allein alles dies ist nichts gegen die trefflichen, herrlichen Bewohner dieser Provinz. Dergleichen guten, ehrlichen, biedern, herzlichen und aufrichtigen Menschenfreund wirst du wohl nirgends finden. Da herrscht keine Falschheit, keine Tücke noch Hinterlist, sondern überall findet man Offenheit, patriarchalische Einfalt und reine Herzensgüte; so, daß die Ehrlichkeit des erzgebirgers sprichwörtlich geworden ist. Heiter und froh wie sein Gesang, unterzieht sich um den geringsten Preis der ehrliche Bergmann den drohendsten Gefahren, und die drückendste Armut ist unvermögend, seine heitere Laune, lächelnd, wie ein schöner Frühlingsmorgen, zu umdüstern. Mit einem Worte: Es ist ein köstliches, gemütliches Völkchen! Uebrigens herrscht eine Unfruchtbarkeit in diesem Landesstrich, welcher nicht vermögend ist, seine Bewohner zu ernähren: Getreide wird wenig erzeugt, denn oft tötet der schnell hereinbrechende harte Winter die Saaten, – nur die wohltätige Kartoffel spendet noch hier und da spärliche Nahrung.”
Auf ein Doppeltes haben die vorgeführten Schriftsteller mit ihren Bildern von der Bergstadt Annaberg und ihrer Umgebung gelenkt: auf die Schönheit ihrer Landschaft und die Tüchtigkeit ihrer Bewohner.
11) Des italienischen Landschaftsmalers Salvatore Rosa (1615 bis 1673), von dem fast alle großen Galerien und Museen Deutschlands Gemälde besitzen.