Ein Beitrag zur Geschichte der Dorfsiedelung im Obererzgebirge.
Von Dr. Langer, Freiberg.
Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 44, 31. Oktober 1926, S. 1
Deutsches Dorf! Ein seit alters uns lieb und vertraut gewordener Begriff. Sehnsüchtig streifen die Gedanken des Großstädters hinaus, dorthin, wo der Mensch gesundheitlich und seelisch noch nicht von der Massensiedlung der Großstadt tyrannisiert wird. Hier genießen wir Ruhe und Frieden gegenüber der lärmenden Hast des Alltags, Naturnähe schafft noch behagliche und würdige Lebens- und Wohnmöglichkeite. Wie erfreuen wir uns, wenn wir vom Pöhlberg weit ins Land schauen und die in Felder und Bäumen eingebetteten Dörfer zur Einkehr einladen, oder wenn dann die Hofgruppen, durchsetzt von dem Grün der Gärten und Bäume, die Kirche inmitten des Friedhofs, das einzelne Bauernhaus in seiner eigenartigen Gestaltung vor unserem Blick auftauchen!
Hermergut, auf dessen Hufenstreifen die Reichenauer Straße angelegt wurde. Es zeigt noch das Fachwerk der fränkischen Kolonisten. 1897 teilte der Besitzer dem Pfarrer Segnitz mit, sein Gut wäre ein „Freigut”, da es früher „einem im Oberdorf gewesenen Mönchskloster angehört haben soll”. Das klingt reichlich unwahrscheinlich. Nach dem im Artikel behandelten Erbzinsregister (Nr. 80) verrichtete es „weder Handfron noch Spanndienste für Amt Wolkenstein, hingegen kommunliche und Milchfuhren.”
Eindrucksvoll predigen die Bilder heimischer Maler von der Schönheit unserer Erzgebirgsdörfer. Aber diese Schönheit ist nicht beabsichtigt, nicht nach ästhetisch-künstlerischen Gesetzen gewollt, sie ist organisch geworden auf Grund natürlicher Bedingungen, die in unserem Heimatboden und unserem Volkstum liegen. Dorfschönheit ist aber: ungehemmte Entwicklungsmöglichkeit der Naturkräfte und andererseits das geschichtlich-ergraute, das ehrwürdige Menschenwerk, während letzteres im Stadtbild meist dominiert.
Wir fühlen wohl alle, daß die Fachwerkhäuschen, die sonnengebräunten Bauerngüter uns von Sorgen und Freuden vergangener Jahrhunderte erzählen, aber die wenigsten wissen, daß der weit wichtigere Teil der Siedlung, die Flur, noch viel getreuer die altergrauten verwetterten Züge von dereinst erhalten hat. Sie legt sich, wenn wir vom Pöhlberg auf die Dorffluren blicken, wie ein weitmaschiger Mantel um die Talsiedlungen. Diese Urkunde, tief eingegraben von derben Bauernfäusten ins Antlitz der Natur, erzählt von der Gründungszeit der Dörfer besser als der Bauplan des Ortes selbst. Wer das Auge im Ablesen der Landschaftsformen draußen geübt, erkennt in der Natur ebenso deutliche Linien und bestimmte Gesetzlichkeiten wie daheim beim Vertiefen in Bücher oder aus dem Kartenbild. Besonders im Hermelinmantel des Winters oder wenn die Felder herbstlich buntgescheckt sind, am eindruckvollsten, wenn die Frühjahrsschneereste sich nur noch an den Feldrändern abheben, heben sich die parallelen, schmalen, aber langen Bauern-Feldstreifen von den Gneishochflächen gut ab. Geschmeidig schwingen sich die Bauernhufenwege aus den Tälern auf die humusbedeckten Erzgebirgshochflächen, folgen überall sanften oder energischen Talwindungen, klimmen endlich im schattigkühlen Wald auf die wasserscheidenden steinigten Waldgrenzen der Fluren oder verschwinden in moorigen Flurrandwiesen oder zwischen graugrünem Erlenbruch.
Die letzten Reste des zurückgedrängten Waldes der Vorzeit, ein beredtes Denkmal tapfer-ausdauernder Rodearbeit vergangener Bauerngeschlechter. Der Wald war buntgemischt vorzeiten, der rauhe Gebirgswind zauste Fichten, Kiefern, Tannen, Eichen, Ebereschen, Birken, Lärchen, die Täler zeigten, wo sie breit entwickelt waren, schon in prähistorischer Zeit Wiesenflächen, die von Buchen, Aspen, Linden umrahmt waren.
Wann hat der Mensch nun unser Gebiet zuerst betreten, wann die Dörfer angelegt?
Von den germanischen Zeiten erzählen sehr fragwürdige Zeugen, so eine vermutliche Ringanlage in der Schwarzenberger Gegend, und neuerdings führt Prof. Knauth den Flußnamen Mulde (urkundlich Milda) auf eine germanische Sprachwurzel zurück. Die Karten der urzeitlichen Bodenfunde und der Slawensiedlungen zeigen, daß auch nach dem Abzug der Germanen (Völkerwanderungszeit) die nachfolgenden Slawen als ständige Ansiedler nicht über die Fußschwelle des Gebirges (Zwickau-Chemnitz-Zschopau-Freiberg-Dresden) in die Gebirgswaldungen vordrangen. Nach Bönhoff dringt der slawische Gau Zwickau (1118b urkdl.) am weitesten bis nach Aue etwa. Das Hinterland der mittelerzgebirgischen Slawengaue Chutizi, Daleminzi, Nisani und der späteren Burgwardbezirke wurde nur von Slawenhändlern usw. besucht. Slawische Bach- und Flußnamen drangen aber vom Niederland bis zur Quelle vor (so auch unsere Pöhla = Biela = die Weiße, Schäumende, dann die Zschopau, die Preßnitz), ebenso benannten die Slawen manche Bergkuppen und augenfälligen Landschaftspunkte – aber diese Namen verraten keine slawischen Siedlungen im Gebirge. Bisher ist viel Unfug mit slawischen Namensdeutungen echt deutscher Erzgebirgslandschaften getrieben worden. Der hölzerne Radlo = Hakenpflug der Slawen konnte den wurzeldurchschossenen Gebirgsboden nicht lockern, das Klima war zu rauh für diese Söhne des Ostens.
Erst den Deutschen war es vorbehalten, auf den uralten Paßstraßen vordringend, die Gebirgswälder zu roden und Siedlungen hier anzulegen. An dieser Kolonisationstätigkeit waren Ritter, Mönch, Bauer und Bürger-Handwerker in gleicher Weise beteiligt – aber zu verschiedenen Zeiten. Zuerst wurde das Slawengebiet Mittel- und Nordsachsens militärisch erobert, und die Burgwardbezirke erstreckten sich bis in die unbewohnten südlichen Wälder. Den kaiserlichen oder bischöflichen Ministerialen (= Ritter) folgten oft gleichzeitig unternehmenslustige Mönche, deren Klöster (= Zellen) nun wie die Burgen Mittelpunkte für die Germanisation, Kultivierung und Christianisierung wurden. Die Grundherren wollten Einnahmen aus den neuerworbenen Gegenden ziehen, daher holten sie selbst oder durch einen Beauftragten, Unternehmer (Lokator genannt) aus dem übervölkerten Westdeutschland Siedler herbei.
Das war bei uns etwa zu Barbarossas Zeiten. Der Beginn dieser großen „Ostdeutschen Kolonisation“ ist am Erzgebirgsfuß natürlich etwas früher anzusetzen. So war 1162 Kloster Altzella bei Nossen gegründet worden im Burgward Mochau. Aus dem großen Klostergebiet, in dem nun Dörfer gerodet wurden, nahm aber Markgraf Otto wieder um Freiberg ein Stück Land heraus, um sich den Silberreichtum um Freiberg, das 1180 aus Christiansdorf, durch Harzer Bergleute bevölkert, zur Stadt wurde, zu sichern. Nun war hier wieder ein Ausgangspunkt für die südliche Kolonisation geschaffen.
Das Augustinerkloster Zelle bei Aue, 1173 gegründet, lag auch an einer slawischen Paßstraße, wie die Namen Scurnica (= Schwarzwasser) (1118), Zschorlau (= curla = Rauschenbach) usw. besagen. Das Kloster Grünhain war wahrscheinlich erst 1233 von Meinher II. von Meißen gestiftet. Es war auf dem Gebiet der Hartensteiner Herrschaft (seit 1173 meißnisches Lehen) gegründet und mit den Dörfern Baiervelt, Sachsenvelt und den zwei wieder in anderen Fluren aufgegangenen Orten Holzinhain (= 1/2 Grünhain und 1/2 Beierfeld) und Westervelt (nördlich Bernsbach) ausstaffiert worden. 1240 war es schon ein größerer Klosterbesitz. Zwischen den genannten Klöstern schob sich unser Gebiet, das, zum Kloster Hersfeld eine Zeitlang gehörig, an den Paßstraßen natürlich auch alte Wegburgen beherbergte. Das Benediktinerkloster Chemnitz war schon 1125 gegründet, von ihm führte über Gelenau (dessen Name entweder auf althochdeutsch gähl = niedriger Grund mit Wasserlauf, oder auf vlämisch geel = grüner Fleck in der Heide = Wald zurückgeht) eine Straße nach dem Pöhlberg, das Sehmatal entlang nach Böhmen.
Unsere größeren Bauerndörfer sind also teils klösterliche Gründungen oder von ritterlichen Grundherren (rechts der Zwickauer Mulde war Reichslehngebiet) im 12. Jahrhundert angelegt worden. 1367 war das Walddorf Craenzagil (Flur sieht wie ein Krähenschwanz aus) in unserer benachbarten Schlettauer Herrschaft das südlichste Dorf. Trotzdem diese Herrschaft bis ins 15. Jahrhundert böhmisch war, kam der Kolonisationsstrom der Zuwanderer von Norden her. Die Bauerndörfer Königswalde (auf des Königs Boden ausgesetzt), Mildenau, Streckewalde usw. standen also schon. Erst viel später, als das Berggeschrei in unserer Gegend erklang, wurden Marienberg (um 1520), Annaberg (1492 bez. 1496), Buchholz (ebenso), Schlettau (um 1500), Scheibenberg (1515 bez. 1522), Gottesgab (1525), Joachimsthal (1515), Kupferberg (um 1500) wieder bergmännische Kolonisationsmittelpunkte. Ganz zuletzt kam infolge der Gegenreformation eine Siedlungswelle von Böhmen herauf, (Jöhstadt 1540, wo Gißdorf stand), Stahlberg (1675), Neudorf (um 1675).
Diese herausgegriffenen Beispiele sollen zeitlich den Verlauf der Kolonisation unseres Gebietes kennzeichnen.
Unsere Annaberger Dörfer gehörten also zur Herrschaft Pöhlberg und sind nicht erst infolge des Bergbaues, sondern meist wohl vor 1200 entstanden. Oestlich der Elbe geschahen die Ortsgründungen erst später, so daß man erst 1220 zur kirchlichen Bezirksorganisation und Städtegründung kam. Man muß dabei immer sich vorstellen, daß die Dörfer älter sind als die Städte, denn diese wirtschaftlichen und späteren Verwaltungsmittelpunkte setzen ja die Existenz der nahrungsliefernden und den Handel und Wandel überhaupt erst bedingenden Dörfer voraus.
Von dieser geschichtlichen Warte aus gesehen gewinnen die Dörfer also an ehrwürdiger Alterspatina.
Daß die Dörfer alle, wohl gleichzeitig, großzügig nach einheitlichem Plane und von einheitlichem Willen angelegt wurden, zeigen ihre großen Fluren, deren Aufteilung sich bis heute so erhalten hat, daß man oft mit großer Mühe, Zeichen- und Rechenstift, Karten- und Landschaftsstudium ihre ursprüngliche Aufteilung erkennen, rekonstruieren kann.
Während der Kaiser mit seinen Vasallen auf italienischem Boden gegen aufstrebende Stadtrepubliken und gegen die Weltherrschaftsansprüche des Papstes viel deutsches Blut opferte, führte hier bei uns im Sandbachtal herauf ein Lokator (denn ohne Lokator ist die genau vermessene Verhufung der Fluren kaum denkbar) eine Schar deutscher Bauern, die aus Thüringen, Oberfranken gekommen sein mögen. Unterwegs hatten sie mit anderen Trupps wohl am Lagerfeuer das Lied gesungen, das damals auf den alten Handelsstraßen über Leipzig, Chemnitz bis nach den Elbeübergängen hin ertönte:
Nach Ostland wollen wir reiten
Nach Ostland wollen wir gehen,
Wohl über die grünen Heiden (= Wald),
Da ist ein besseres Stehn (= Sein).
Waldes- und Bachesrauschen verschlangen die Worte der fröhlichen Schar. Nun erklang ihre Waldaxt, kräuselte der Rauch ihrer Lagerstätten durch die mächtigen Baumkronen. Auf dem Wiesenanger weitete das mitgebrachte Vieh. Prüfend ließen sie den Waldboden durch ihre Hand gehen. Der Lokator maß mit Bandmaß (denn damals war die Meß- und Baukunst (westdeutsche Dome!) schon gut entwickelt) einem jeden am Bachrand den zukünftigen Besitzstreifen ab, legte dann bis auf die Flurgrenzen hinaus im Walde den Hufenstreifen fest. Die Flurgrenze war von ihm oft bereits vorher abgemessen und an Waldbäumen gelachtert = gelocht. Er warb also eine bestimmte Anzahl von Kolonisten an, damit jeder genug Land zum Leben hatte. Was eine Familie ernähren konnte, nannte man die huobe = Hufe. Der Bauer ging nun ans Bäumefällen. Krachend rissen umgesägte Baumriesen im Fallen diejenigen Nachbarstämme mit um, deren Wurzeln man vorher mit der Axt durchschlagen hatte. Hoch ragten die Wurzelteller in die Luft. Aus Baumstämmen baute man nach heimischer, westdeutscher Weise dann die Güter. Nur noch wenige alte Gebäude Mildenaus (z. Teil abgerissen, vergl. Bild, Seite 5 des Erzgebirgischen Sonntagsblattes unserer Zeitung vom 11. Juli 1926) zeigen die kunstvollen Balkenkonstruktionen (Kreuzgebinde) oder die Blockhausanlage, welch letztere sich für das Gebirgsklima freilich als ungeeignet erwies und später, vielleicht schon sehr bald aufgegeben wurde. Mit jedem Jahr rückte der Wald weiter von der Bachaue und den Gütern weg, und unzählige Schweißtropfen tränkten die Felder, die sich auf der Hufe nun aneinanderreihten. Mancher Feldname (andernorts z. B. Kohligt, Räumicht, der Brand, das Buchenstück, der Hahn-Hain usw.) erinnert noch an das ehemalige Waldkleid. Jetzt umsäumt nur an den äußersten Flurgrenzen (Rauschenbach, die Pöhla, der Kommunewald) der Wald noch die Felderanlage. Dafür treten desto deutlicher die tiefausgefahrenen Hufenwege im Landschaftsbild hervor.