Die Annaberger Schul- und Seminarverhältnisse (3)

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 120. Jahrgang, Nr. 53, 31. Dezember 1926, S. 6

Bruchstück aus der Lebensgeschichte eines andern alten Annabergers.

(Schluß.)

Die Feier von Königs Geburtstag war sehr reich ausgestaltet: Aktus mit Reden von Lehrern und Schülern, Festmahl, Theater und Schulball. Die Schüleraufführung am Festabend brachte gewöhnlich ein klassisches Drama. Ich sah 1869 Schillers „Braut von Messina“, 1870 Goethes „Iphigenie auf Tauris“ mit den eingelegten Chören aus der gleichnamigen Tragödie des „Euripides“, 1872 Lessings „Minna von Barnhelm“, 1873 Ifflands „Jäger“. Auffällig, daß bei der hohen Pflege der Musik das Seminar nicht häufig eigene musikalische Aufführungen veranstaltete. Ich erinnere mich nur zweier kleiner Abendunterhaltungen (am 9. Mai und am 11. Juli 1869) die aber einen tiefen Eindruck auf mich hinterließen. Oberlehrer Stecher hatte auf die Spielordnung geschichtliche und aesthetische Bemerkungen gebracht, die mein höchstes Interesse in Anspruch nahmen. Der Schulball am Abend von Königs Geburtstag litt darunter, daß die Seminaristen nicht einen von der Anstalt eingerichteten Lehrgang im Tanzunterricht mit Tänzerinnen genossen. Noch mehr kam dieser Mangel zur Geltung bei der Teilnahme der Schüler an den Festlichkeiten der Museumsgesellschaft. In den sogenannten „großen Museen“, deren es damals in jedem Winter zehn gab, sangen wir unter der Leitung des Organisten Nikolaus Hermann gemischte Chöre, was für uns eine wertvolle Ergänzung zum Chorgesang im Seminar bildete, wo das weltliche Lied nur im Männerchor gepflegt wurde. Die Sänger durften dem ganzen Konzert beiwohnen, und denen der beiden obersten Klassen war auch die Teilnahme an dem nachfolgenden Balle gestattet. Von der Erlaubnis hierzu habe ich zwar keinen Gebrauch gemacht, wohl aber die Konzerte rtegelmäßig besucht. Auf sie gehen meine ersten großen Eindrücke in den Gebieten des Sologesanges und der Instrumentalmusik zurück; denn die Museumsgesellschaft verpflichtete fast zu jedem ihrer Konzerte Künstler und Künstlerinnen hohen Ranges, zumeist von der Königlichen Oper und Kapelle in Dresden und dem Gewandhaus und Stadttheater in Leipzig. Einmal wurden die Shylockszenen aus Shakespeares Kaufmann von Venedig von dem damaligen Bürgermeister Heppe aus Buchholz mimisch dargestellt. Auch wissenschaftliche Vorträge wurden geboten. Ich entsinne mich noch, daß der Seminardirektor Schmidt bei der großen Beethovenfeier 1870 einen glänzenden Festvortrag hielt, in dem er auch als vortrefflicher Klavierspieler Proben aus den Werken des Meisters bot. Realschuldirektor Professor Gilbert sprach einmal zum Gedächtnis des Königs Johann, Justizrat Dr. Böhme über Friedrich Barbarossa, Seminaroberlehrer Dr. Voigt über Rückerts Gedankenlyrik und Realschuloberlehrer Ruhsam über Edelsteine und Perlen, wobei eine Sammlung von Proben, die Frauen und Töchter der Mitglieder beigesteuert hatten, besonderes Interesse erregte. Noch heute bin ich der Annaberger Museumsgesellschaft dankbar für die uns gebotenen auserlesenen Genüsse. Es sind also nicht nur äußere Beziehungen, die mich veranlaßt haben , hier dieser Gesellschaft zu gedenken, denn sie hat auch an der Bildung eines Teiles der Annaberger Jugend mitgearbeitet, indem sie ihr Zutritt zu ihren hochstehenden Veranstaltungen gewährte.

Obwohl das damalige Seminar einen sechsjährigen Besuch verlangte, verließ ich es doch schon nach fünf Jahren, und das kam so: Da bei meiner Aufnahme Ostern 1869 der Klassenwechsel zu Michaelis erfolgte, hatte ich der 6. Klasse nur ein halbes Jahr angehört. Weil nun 1874 der Osterabgang eingeführt werden sollte, wurde auch der Besuch der 1. Klasse um ein halbes Jahr gekürzt. Für unsere Ausbildung wäre die Verlängerung auf ein und ein halbes Jahr nützlicher gewesen; aber der Lehrermangel war damals so groß, daß demgegenüber alle Bedenken schweigen mußten. Am 21. und 22. April 1874 legte ich die Kandidatenprüfung ab, und bald darauf wurden wir mit feierlicher Rede des Prüfungskommissars Dr. Zapff aus dem Verbande der Anstalt entlassen. Darnach ein kurzer Abschiedstrunk im Ratskeller, und die 27 Schulgenossen, die jahrelang Freud und Leid eng miteinander verbunden getragen hatten, zerstreuten sich, um ins Schulamt einzutreten. Einige, die in jüngeren Jahren noch vor der Einrichtung unserer regelmäßigen Klassenzusammenkünfte starben, habe ich nie wiedergesehen.

Diese Klassenzusammenkünfte, von denen das Goethesche Wort gilt:

„Ihr bringt mit euch die Bilder früher Tage,
Und manche liebe Schatten steigen auf;
Gleich einer alten, halbverklungenen Sage
Kommt erste Lieb‘ und Freundschaft mit herauf“ —

fanden anfangs nur nach größerem Zeitabschnitten statt, aber seit 1914 treffen wir uns alljährlich zu Pfingsten, wenn der Frühling auf die Berge steigt, in der alten lieben Seminarstadt. Nach dem gemeinsamen Mittagsmahle im Ratskeller wandern wir durch die Straßen. Sie sind volksreicher, aber für uns, recht verstanden, menschenarm geworden. Da schaut kein fein’s Liebchen, wie einst, zum Fenster heraus. Da bietet sich ganz selten einmal Gelegenheit, einen Jugendfreund zu begrüßen. Und die damals im besten Mannesalter standen, wie lange sind sie schon dahin! Wie man in der Heimat fremd werden kann, erfuhr ich an meinem 70. Geburtstage. Da die meisten sächsischen Zeitungen davon Kenntnis genommen hatten, erhielt ich aus allen Teilen des Landes Glückwünsche, aus meiner Vaterstadt einen einzigen. Das ganze alte Annaberg unserer Jugend liegt für uns draußen auf dem wohlgepflegten Friedhof. Dorthin führt daher immer unser Weg. Hier stehen wir an den Gräbern unserer geliebten Lehrer, soweit sie noch erhalten sind, an den Ruhestätten von Bürgermeistern und Stadträten, Kauf- und Handelsherren, vor denen wir einst in Ehrerbietung die Mütze zogen; vor Gast- und Schankwirten, bei denen wir zu kurzweiligem Gespräch und harmlosem Spiel bei einem einfachen Trunke einkehren durften; von Händlern und Handwerkern, die unsere geistigen und leiblichen Lebensbedürfnisse befriedigten.

Aber auch die Stetigkeit des Friedhofes ist nicht dauernd. Wir suchen vergebens das Grab mit der Inschrift: „Voluit veritatem“ auf dem Denkstein, das die sterbliche Hülle eines Arztes barg, der zu unserer Zeit eine der eigenartigsten Persönlichkeiten der Stadt war, dem ich auch manche Belehrung verdanke. Wir finden nicht mehr die Ruhestätte des beweglichen und gesprächigen Pr., der bei unseren Klagen über die „Haltlosigkeit“ der von ihm gelieferten Stiefelsohlen mit dreifacher Verneinung beteuerte: „Kein Schuster kann in keinem Leder nich‘ stecken!“ — Gern wandern wir vom Friedhof aus dem Pöhlberg zu, wenn es das Wetter erlaubt; denn auch wir haben nur zu oft die Wahrheit des Röderschen Spruches erfahren:

Is ju wos lus in Annebarg,
do hots a Niederschlög.“

Seit 1922 sind wir nur noch 9 von 27, und ich bin unter ihnen der einzige geborene Annaberger. Die anderen der 7 „Edlen“, wie uns die Schülersprache zu bezeichnen pflegte, hat der Tod schon abgerufen. Auch sie waren echte Erzgebirger und treue Söhne ihrer Vaterstadt. Jeder von ihnen dachte einst wie ein jüngerer Heimat- und Berufsgenosse es gesungen hat:

„Stadt meiner Jugend, wie ein Gebet
Um deine Mauern Erinnerung weht.
Glanzverklärt stehst du in meinem Sinn,
Ob ich gleich in der Fremde bin!
Segne mich weiter in Freude und Not!
Stadt meiner Jugend, Grüß Gott! Grüß Gott!”

Dr. H. in Fr.

—Ende.—