Erzgebirgische Mundart und Schule.

Von O. E. Friedrich – Schwarzenberg.

Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 40. – Sonntag, den 29. September 1929. S. 2 – 3.

Mundartforschung ist heute mehr denn je ein aktuelles Gebiet. Dieser Beitrag will eine Anregung sein für eine Mitarbeit im Sinne der Mundartforschung in Sachsen, zu der das Germanistische Institut an der Universität Leipzig vor kurzem aufforderte und aus diesem Grunde bestimmte Fragebogen an alle Schulorte Sachsens verschickt hat. Dem Institut schwebt das Ziel unter anderem die lückenlose Aufstellung eines Wörterbuches der Mundarten Sachsens vor. Daß es sich hier um eine gewiß dankbare, aber nicht leichte Arbeit handelt, die viele Mitarbeiter erfordert, unterliegt keinem Zweifel.

Was ist Mundart?

Mundart ist die landschaftliche Gestaltung der Verkehrssprache, die (gleich einem Verkehrsmittel) bequem, d. h. in dem Falle abgeschliffen sein und sich nach praktischen Bedürfnissen der betreffenden Landschaft richten muß. Von hier aus muß der (mündlichen) Verkehrssprache die Schriftsprache (als Augensprache) gegenübergestellt werden. Die Schriftsprache, mit ihren ersten Ansätzen in mittelhochdeutscher Zeit nicht sehr alt, von den Kanzleien ausgebildet, durch Luthers Bibelübersetzung gefördert und von Buchdruckern im eigenen Interesse weiter ausgebreitet, ist ein künstliches Gebilde, das über die Landschaft hinausblickt und deren Eigenart abzuschleifen versucht. Dieselbe Tendenz birgt in sich die gesprochene Schriftsprache, die „Hochsprache” der Schauspieler usw.

Wichtig ist, daß die Mundart den Mutterboden der Entwicklung für die Schriftsprache darstellt und nicht etwa eine verschlechterte Schriftsprache ist. Beide gehen sprachlich auf eine gemeinsame Wurzel, auf das Mittelhochdeutsche zurück, das auch hier den Ausgangspunkt bildet bei germanistischen Vergleichsstudien.

Die nächste Frage gilt der schriftlichen Erfassung der Mundart. Diese steht und fällt mit der Aufstellung einer einwandfreien mundartlichen Grammatik. In diesem Zusammenhange sei der vorbildlichen Wegebereiter auf diesem schwierigen und darum selten begangenen Gebiete gedacht. Außer Göpfert („Die Mundart des sächsischen Erzgebirges nach den Lautverhältnissen der Wortbildung und Flexion”) und O. Philipp („Die Zwickauer Mundart”) wurde ganz besonders Lang („Die Zschorlauer Mundart”) und Gerbet („Grammatik und Mundart des Vogtlandes”) erwähnt. Der letztere Verfasser hat die beste Einzelgrammatik aller deutschen Mundarten geliefert. Grundlage jeder Grammatik ist das richtige Erfassen des Lautes, um eine Lautlehre aufstellen zu können. Sie hat zwei Aufgaben. Sie muß sich mit der Phonetik befassen, also die natürliche Entstehung der Laute im Munde des Sprechers, was gutes Gehör, große Aufmerksamkeit und Geduld beim Beobachter voraussetzt, studieren und ferner die Ergebnisse lautschriftlich festlegen. Die Lautschrift ist dabei gezwungen, neue Schriftzeichen für neue Laute einzuführen, dabei sich immer streng die Frage vorlegend: Wie bringe ich den einzelnen Laut und das einzelne Wort möglichst naturgetreu zu Papier? Aufschlüsse gibt hierbei auch die Historische Grammatik, die sich vergleichsweise mit dem Lautbild der früheren Zeit, also z. B. mit dem Mittelhochdeutschen, beschäftigen muß. Man muß sich einmal an zahlreichen mundartlichen Beispielen das Wesen einer Lautschrift unter peinlicher Beachtung der hellen oder dunklen Klangfarbe, des Stimmhaften oder Stimmlosen und der Längen und Kürzen und Ueberkürzen der einzelnen Laute veranschaulichen. Werden diese beim Studium in ihrer Eigenart landschaftlich festgelegt, so spricht man von Laut- bezw. Wortgeographie. Diese fordert zum Beobachten der benachbarten Einzelmundarten, zum Vergleichen und Zusammenfassen, zur Gruppenbildung heraus. So kommt man zur Einstellung in eine erzgebirgische, fränkische, thüringische usw. Mundartgruppe. Eine Zusammenfassung der Gruppen führt dann zuletzt zur großen Zweiteilung in Nieder- und Oberdeutsch.

Um die Abgrenzung der einzelnen Mundarten graphisch festzuhalten, werden Karten mit Lauterscheinungsgrenzen angelegt. Die Linien erweisen sofort, daß es eine mundartliche Kernlandschaft gibt. An den Grenzen des Mundartgebietes werden die Uebergänge fließend, und es tauchen Linienbündel auf. Der Johanngeorgenstädter Heimatforscher Dr. Richard Truckenbrodt hat z. B. in seiner wertvollen Dissertation („Zur westerzgebirgischen Volkskunde”, „Beiträge zur Kenntnis der Mundart, Volkskunde und Besiedelung des westlichen Erzgebirges auf Grund der Mundart von Johanngeorgenstadt”) von der Kernlandschaft der westerzgebirgischen Mundart nur den westlichen Teil bearbeitet. Das ist ungefähr das Gebiet der heutigen Amtshauptmannschaft Schwarzenberg. Es läßt sich das Westerzgebirgische an der Hand der Karte nach Westen bezw. Südwesten gegen das (sonst verwandte) Vogtländische scharf abgrenzen. Eine starke Hauptlinie tritt hier als mundartscheidend auf. Es ist die sogenannte pf-Linie. (Siehe An-, In- und Auslaut!) Wir sagen Pfanne, aber Topp und Aeppel; der Vogtländer spricht von Topf und Aepfel. Trotz dieser einschneidenden Unterschiedlichkeit muß man auf dem Standpunkt stehen, daß das Westerzgebirgische seinen Grundcharakter nach süddeutsch-ostfränkisch, keinesfalls aber obersächsisch ist.

Es fällt ferner die Linie der Verkleinerungssilbe el und le auf, die das Gebiet nach Nordwesten und Norden abgrenzt, wo chen bezw. ke gesprochen wird. Der ausgiebige Gebrauch der Verkleinerungssilben weist eindeutig über das Vogtland nach dem süddeutschen Ostfränkischen, Oberpfälzischen, Bayerischen. Diese Erscheinung erstreckt sich übrigens von der bayrischen Grenze bis in die Lausitz. Andere mundarttrennende Linien sind durch folgende gegensätzliche Wortpaare gekennzeichnet: bin-bi (Nasalierungslinie), nix-nischt, Geld-Gald, Gäns-Gänse, na-nä usw. Auch die Erwähnung des Singetongebietes und des Zungen-r gehört hierher. (Siehe Eibenstocker Gebiet.) Dieser wertvolle Rest unserer alten kraftvollen „Bergleute- und Bauernmundart” (siehe noch Lauter wie auch Markneukirchner Gegend) ist übrigens das untrügliche Erkennungsmerkmal der böhmischen Mundart, denn die Landesgrenze ist eine scharfe und zuverlässige Trennungslinie zwischen Zungen-r und Zäpfchen-r. Wenn auch in vielen Fällen alte Bezirks-, Landes- und Reichsgrenzen mundartbildend gewirkt haben, so greift doch andererseits gerade die westerzgebirgische Mundart mit ihrer ganzen charakteristischen Wesensart, also zuerst als Bergmannssprache, über die Grenze weit nach Süden vor ins Egerländische zu dem Nordgauischen. Von hier aus sind sofort die innigen Beziehungen gegeben zur Besiedlungsgeschichte, die wieder in engem Zusammenhange steht mit der geologischen Beschaffenheit des westerzgebirgischen Mundartgebietes.

Nicht die Oberflächengestaltung vermag die Sprachscheidung zu erklären, sondern die Besiedlungsgeschichte der Landschaft. Das Verdienst von Dr. Truckenbrodt ist es, daß er den fünf Besiedlungsperioden des erzgebirgischen Nordabhanges (siehe von Süßmilch!) zwischen die zweite und dritte Besiedlungswelle die Zuwanderung und dadurch erfolgte weitere Aufschließung des Gebirges durch fichtelgebirgische Zinnseifner einschiebt, wodurch äußerst wichtige, sprachliche Aufhellungen entstehen. Ueberhaupt lassen sich die Beziehungen zwischen Fichtelgebirge und Erzgebirge (und weiter zum Unter- und Oberharz) sehr eng knüpfen.

Wie ist nun die Stellung der Mundart zum Unterricht? Die Schule muß von der Anschauung ausgehen, daß für den größten Teil der Kinder unseres Volkes die erzgebirgische Mundart ihre eigentliche Muttersprache ist. In dieser sprachlichen Welt denkt und fühlt, spricht und singt, lebt und webt das Kind daheim und draußen. Wieviel innere Werte können zerstört werden, wenn z. B. für die Schulanfänger mit einem Schlage diese Welt gänzlich zertrümmert würde! Mundart und Schriftsprache sind eben zwei durchaus selbständige Sprachen, und es wäre ein grober Verstoß gegen die wichtigsten Gesetze der Psychologie, wenn die Schule annähme und den Unterricht in dem Sinne erteilte, als brächten die Kinder ganz selbstverständlich das Hochdeutsche mit. Für die Kleinen haben die neuen Sprachbilder zunächst die gleiche Bedeutung, als entstammten sie einer Fremdsprache. In diesem Sinne soll sich vor allem der Lehrer der unteren Klassen zum Hochdeutschen einstellen, will er im sprachlichen Leben des Kindes einen lückenlosen Uebergang schaffen. Aus dem Nebenherlaufen der beiden Sprachen, zu der eigentlich noch eine dritte Art, nämlich das “Sächsische” kommt, wird das unendliche und oft vergebliche Mühen der Schule um eine mustergültige Rechtschreibung mit erklärlich. Darum muß die Mundart unbedingt als fruchtbare Beigabe lebendig in den Unterricht einbezogen werden. Dazu bietet sich in vielen Fächern Gelegenheit, nicht nur im Deutsch, wo in der Sprachlehre hochdeutsche und mundartliche Lautbestände und Wortbilder gegenübergestellt, wo mundartliche Gedichte und Geschichten gelernt, erzählt und gelesen und mundartliche Aufsätze geschrieben werden und die Beziehung zur großen deutschen Mundartdichtung der anderen Landschaften gefunden wird, sondern auch in der Heimat-, Vaterlands- und Naturkunde, wo der mundartliche Ausdruck für viele Gegenstände und Erscheinungen in seiner kraftvollen anschaulichen Sinngebung zur Klärung gar oft unentbehrlich ist. Im Singen wird das mundartliche Lied gepflegt. Nicht alle Landschaften haben einen so echten mundartlichen Volksdichter und -sänger, wie wir in unserem Anton Günther. Darauf wollen wir stolz sein und nicht daran herumkritteln, wenn das eine oder andere Lied von ihm nicht gleichwertig ist. So in den Dienst unterrichtlicher und erzieherischer Arbeit gestellt, wird die Mundart niemals vom Kinde als ein verderbtes minderwertiges Hochdeutsch angesehen werden, und es wird ihm die Freude an seiner Muttersprache erhalten bleiben. Und über das Schulerzieherische hinaus wird eine solche Einstellung sich steigern zu volkserzieherischer Aufbauarbeit, die in diesem Falle bedeutet: Erhaltung der Mundart als eines urlebendigen Gutes unseres heimischen Volkstumes.

Wer den Sinn für die Mundart aufgibt, opfert “Denkweise, Einbildungskraft, Gefühl und vaterländischen Charakter”. So sagt Goethe, der an anderer Stelle die Mundart durch folgende Worte adelt: “Der Dialekt ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft.”