Vor 80 Jahren

Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 36. – Sonntag, den 1. September 1929, S. 1 – 3.

Nach Quellen bearbeitet von A. Kothe-Buchholz.

(Schluß.)

Was geschieht in Buchholz? Hesse-Fritz war gerade in Dresden zu einer Hauptversammlung der Vaterlandsvereine als Abgeordneter des hiesigen. Zurückgeeilt nach Buchholz, referiert er und stellt in der außerordentlichen Versammlung der Bürgerwehr, dabei dem Beispiel Dresdens folgend, den Antrag: Der Stadtrat möchte die gesamte Bürgerwehr auf die neue Reichsverfassung vereiden. Bürgermeister Koch gibt diesem Antrag statt unter der Bedingung, daß er die Verantwortung, die daraus entstünde, ablehne. Das Stadtverordnetenkollegium beschließt gemäß dem Antrage. Der Generalmarsch wird geblasen und in wenigen Minuten steht die Kommunalgarde auf dem Markt versammelt. In Reih‘ und Glied marschiert sie nach dem Schießhausplatz. Der Bürgermeister erscheint in Frack und weißen Glacés, gibt bekannt, daß sich der Kommandant der Garde, Kaufmann Hammer, entschieden weigere, den Eid abzunehmen, sodaß er, als Vorsitzender des Ausschusses, den Beschluß auszuführen habe und dies in Form eines Handschlages tun wolle. Nur ein einziger, Karl Grund, verschwindet aus dem Glied. Nachdem man auf den Markt zurückgekehrt ist, erfährt man dort, daß in Dresden seit dem 3. Mai die Revolution zum Ausbruch gekommen sei. Ehe man wegtritt, bittet Fritz Hesse laut um das Wort. In heiliger Erregung, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen, ungeachtet, daß ihn sein Weib von hinten an der Uniform riß und sein Kind emporhob, ruft er: „Bürger! Männer, Väter und Brüder, die Würfel sind gefallen, bei dem Donner der Geschütze, dem Blut, das jetzt in Dresden vergossen wird, vergossen im Kampf um die heiligen Rechte der Menschen, jener Rechte, die selbst vom König beschworen und nun wieder meineidig von ihm gebrochen, fordere ich euch auf, im Namen Eurer Mütter, die Euch am Busen genährt; bei den Gebeinen Eurer Toten, bei dem Blute Eurer Väter rufe ich, einzustehen für jenes heilige Recht, damit Ihr nicht der Schande, dem Spott Eurer Feinde, dem Fluch Eurer Kinder preisgegeben seid! Fordere ich Euch auf, jetzt Eure Schuldigkeit zu tun. Tretet heraus aus den Reihen, alle die Ihr mit mir nach Dresden wollt, teilzunehmen am heiligen Kampf!“  Und wirklich ist er bald von einer stattlichen Anzahl Gesinnungsgenossen umringt, doch immer noch zu wenig. Als die Turner hinter den Reihen rufen, sie möchten mit, hätten aber keine Waffen, ruft Hesse erfreut: „In einer Stunde sollt Ihr alle Waffen haben, hier stehen deren genug, die Waffen tragen, ohne derselben würdig zu sein“. Als es ans Einschreiben geht, schmilzt die Zahl auf ein Drittel zusammen, jeder hat andere Ausreden, dem einen gehe sein Geschäft zugrunde, den anderen ließe seine Mutter nicht fort, der dritte könne nicht marschieren. Bürgermeister Koch warnt und bittet, doch abzuwarten, was die Deputation in Dresden ausgerichtet habe. Doch für Hesse gibt es kein Warten mehr. Seine Wohnung wird zum Haupt-Stabsquartier. Vom Schützenhaus wurde die schwarz-rot-goldene Fahne geholt. Georg Adler, der Soldat gewesen war, ward zum Führer erkoren. Am 5. Mai, 10 Uhr abends, zog man mit klingendem Spiel zum Tor hinaus. In Annaberg war man etwas besonnener. Man forderte zwar auch, die Kommunalgarde zu vereidigen und nach Dresden zu ziehen, aber Reiche-Eisenstuck stellte den Leuten dar, daß es nicht ratsam sei, die Stadt gänzlich zu entblößen. Der stellvertretende Bürgermeister, Stadtrat Römer, weigert sich, eine Verpflichtung auf die provisorische Regierung vorzunehmen. Die Volksmenge nimmt eine erbitterte Haltung ein. Durch Hetzreden einzelner Männer aufgepeitscht, dringt eine Abordnung ins Rathaus und zwingt Reiche, die vorher gemachten Aeußerungen auf dem Balkon des Rathauses zurückzunehmen. Anderen, die abfällig geurteilt hatten, rückt man vors Haus und schlägt ihnen die Fenster ein, bis es der Kommunalgarde gelingt, endlich Ordnung zu schaffen. In diesem Augenblick kommen die Buchholzer Freischärler. Man verwehrt ihnen den Durchzug. Als Hesse mit Schießen droht, läßt man sie gehen. Begleitet von ihren Frauen ziehen sie mit Sang und Klang nach dem Wolkensteiner Tor. Hier kehren ihre Angehörigen um. In Wolkenstein hielt man kurze Rast. Kurz vor Forchheim begegnete ihnen die von Dresden kommende Deputation, die ihnen freudig zurief: „Brav von Euch, eilt, daß Ihr hinkommt, aber Ihr seid zu wenig, laßt uns nur heimkommen, wir werden Euch bald in großer Zahl folgen. Der König ist feige geflohen“. Am 6. nachmittags ist man in Freiberg und übernachtet dort. Am anderen Morgen fährt man in dazu gemieteten Bauernwagen auf Kesselsdorf zu. Doch schon vor Kesselsdorf kehren die Bauern um, da es ihnen zu brenzlig wird. Ein freiheitlich gesinnter Bauer kommt in Hemdärmeln ihnen entgegen und ruft ihnen zu: „Im Dorf sei Kavallerie, man solle ihnen den Weg abschneiden.“ Wirklich kommt bald eine Patrouille von 7 Mann den Berg herauf. Das Gewehr im Anschlag wurde die Straße gesperrt, das Passieren verweigert. Als die Reiter von der Nutzlosigkeit eines Kampfes überzeugt sind, steigen sie ab, und liefern ihre Waffen ab. Von Wilsdruff kommt den Buchholzern ein anderer Zug Freischärler entgegen. Als Führer dieses tut sich ein Mensch, angetan mit Reiterstiefeln, großem Hut mit roter Hahnenfeder, breitem Gürtel mit 2 großen Pistolen, zur Seite einen Schleppsäbel, mit einem weitärmeligen Burnus als Ueberwurf, großsprecherig hervor. Es fehlte ihm bloß das Pferd. Sofort besteigt er auch eins von den Gefangenen. Hesse schreibt: „Solche und andere derartige Persönlichkeiten ließen mich schon damals nicht viel Gutes versprechen, denn das sind die Drohnen im Volksschwarm.“ Am 7. Mai, früh 7 Uhr, erreichte man Dresden. Die Buchholzer erhielten den Auftrag, da sie Scharfschützen in ihren Reihen hatten, die Pulvermühle einzunehmen. Dort fanden sie alles fest verschlossen, doch ein Kanal blieb zunächst unüberwindliches Hindernis. Als sie versuchten, eine Notbrücke anzulegen, erhielten sie Feuer. Man erwiderte und bald waren die Schützen in der Mühle zum Schweigen gebracht. Als sie eindringen, ist alles leer, 3 Artilleristen zieht man hinter einem Reisighaufen hervor. Doch im ganzen Haus ist kein Quäntchen Pulver zu finden. Den Inspektor bringt man im Schlafrock angeschleppt. Lässig-Franz, als gute Spürnase bekannt, hat unterdessen die Schuppendielen aufgerissen und 25 Zentner Pulver in Fässern und Säcken verpackt, zum Vorschein gebracht. Sie werden auf Leiterwagen geladen, die Gefangenen und der klagende Inspektor im Schlafrock obendrauf. So brachte man die Ladung zur 1. Kreuzbarrikade. Hesse begab sich mit Herklotz zur provisorischen Regierung zur Berichterstattung. Durch Gärten, unter Häusern weg, durch Mauerlöcher führte der Weg zum Rathaus. Dort treffen sie Otto Leonhardt-Heubner mit seinen Getreuen, dem Advokaten Tschirner, Regierungsrat Tod und dem russischen Emissär Bakunin. Sie schienen äußerst resigniert, Heubner allein schien Meister der Situation. Im Begriff, zu ihren Leuten zurückzugehen, kommen Hesse und Herklotz gerade dazu, wie man das Hotel d’Europe stürmen will, aus dem geschossen worden ist. Ohne Regel und Disziplin wurde alles im Innern zerstört, jeder Insasse, der gefunden wurde, gleichviel ob schuldig oder nicht, von den Sensenmännern zerhackt oder umgebracht. Hesse ist empört über diesen Anblick.

Am 6. Mai wäre der Kampf eigentlich beendet gewesen, da das sächsische Militär zu den Aufständischen überging, wenn nicht der König vermocht hätte, preußische Hilfe heranzurufen. So ging der Kampf weiter. Die übrigen Buchholzer hatten unter Adlers Führung unterdessen ein Scharmützel mit preußischer Kavallerie zu bestehen. Adler erzählt selbst, daß er im Kampf mit dem preußischen Offizier den Kürzeren gezogen, wenn nicht plötzlich ein Signal die Preußen zur Umkehr befohlen hätte. Fritz Hesse erhält Order, aus Tharandt neuen Zuzug herbeizuholen. Den feindlichen Streifen geschickt ausweichend, erreicht er am 9. früh mit Freund Herklotz Tharandt. Wirklich treffen sie hier eine wohl ausgerüstete Schar Buchholzer von etwa 100 Mann mit Christian Uhlmann an der Spitze und noch 1000 aus anderen Orten, bereit, sich für die langersehnten Grundrechte einzusetzen, nur auf Befehl wartend. Als das Signal zum Aufbruch gegeben wurde, erscheint auf schweißtriefendem Pferde ein Abgesandter der provisorischen Regierung mit Gegenbefehl. Heubner habe den Rückzug befohlen, da man Gefahr laufe, von den preußischen Truppen eingeschlossen zu werden. Bald erscheinen auch die tapferen Barrikadenkämpfer. Regierungsrat Tod von der neuen Regierung ist geflohen, und während man in einer Bierstube Kriegsrat hält, machte sich auch Tschirner aus dem Staube. Es wird beschlossen, sich auf Freiberg zurückzuziehen. Schon dieser Rückzug sah mehr einer Auflösung ähnlich. Wenn auch Heubner vom Balkon des Rathauses zu Freiberg beteuerte, bis zum Tode ausharren zu wollen, mußte doch jeder einsehen, daß bei der Zerfahrenheit der Führung weiterer Widerstand aussichtslos sei. So zog alles tief zerknirscht und verbittert wieder der Heimat zu. Schon hinter Forchheim gesellten sich zu der Buchholzer Schar Gendarmen, die Neuigkeiten von Dresden zu wissen wünschten, die Leute aushorchten und eifrig notierten. Viele, die sich in Dresden einen Namen gemacht hatten, verschwanden jetzt über die böhmische Grenze. Die Wohnung Hesses wurde zur Station für Flüchtlinge, die, der Himmel mochte es wissen, an ihn empfohlen worden waren.

Seit der Rückkehr des Königs nach Dresden trat zunächst eine politische Windstille ein und man glaubte allgemein, daß die Regierung, ihr Unrecht einsehend, die ganze Sache niederschlagen würde, der König mindestens eine allgemeine Amnestie erlassen werde. Doch weit gefehlt! Die Reaktion griff mit unbarmherziger Schärfe zu. Wehe, wer sich in der Begeisterung für ein großes deutsches Kaiserreich mit freier Verfassung hatte mit fortreißen lassen! Er mußte von seinen Träumen hinter Gefängnisgittern erwachen, wenn er nicht den Flüchtlingsstab ergriff und in der Fremde sich eine neue Heimat suchte.

Die Anklage gegen die Buchholzer und Annaberger Insurgenten ging von dem Annaberger Gendarm August Neubert aus mit der Bemerkung, daß es schwer sei, in Buchholz Verbrechern auf die Spur zu kommen, indem dieselben auf alle Art und Weise von der Ortsbehörde in Schutz genommen würden. Die Stadtverordneten Hesse und Berthold werden namentlich als Teilnehmer am Aufstand angeführt. Der Stadtrichter Pernitzsch von Buchholz bekam tatsächlich am 24. Juli einen Tadel, daß er sich keineswegs mit der erforderlichen Umsicht des Falles unterziehe, ja, es wurde später das Justizamt Wolkenstein mit der weiteren Untersuchung beauftragt. Zur Unterstützung der richterlichen Gewalt waren am 12. Juli die 3. und 4. Kompagnie des preußischen 19. Landwehr-Regiments unter Kommandant von Bialke in Annaberg und Buchholz eingerückt. Anfang August werden die ersten Haftbefehle gegen Hesse und den Posamentiermeister Bernhard Zierold erlassen. Hesse berichtet: „Am 3. August wurde ich verhaftet und nach Wolkenstein abgeführt. Daß diese Herren meine Persönlichkeit für weit gefährlicher hielten, als dieselbe in Wirklichkeit war, beweist der Auftrag des Wachtmeisters, dafern er auf Widerstand stoße, das preußische Militär zu requirieren, trotzdem er selbst mit Waffen, Handschellen und einem großen Fanghund ausgerüstet war. Der Stadtrichter Pernitzsch ließ mich rücksichtsvoll zu sich rufen und sagte: „Ich habe den Wachtmeister ersucht, nicht in ihr Haus zu gehen, um ihre Familie nicht zu erschrecken. Ich habe mich mit meinem Kopf verbürgt, daß Sie sich selbst pünktlich einstellen würden.“ Ein Blick, ein Händedruck bezeugten meinen Dank. Wenn ich mich auch damals hätte freimachen können, so würde ich doch lieber den Tod erlitten haben, als dieses Vertrauen zu mißbrauchen. Ich eilte, meine Frau zu beruhigen, wenn davon die Rede sein kann, dann spazierte der Wachtmeister mit mir zum Städtchen hinaus. Es war ein kalter Regentag und um 4 Uhr waren wir am Ziel. Hier übergab er mich dem Unterwachtmeister mit der einfachen Weisung „Nummer 4“, d. h. diese Nummer hat der Gefangene und seine Zelle. Meine Zelle war 11 Fuß lang, 4 Fuß breit und 14 Fuß hoch, ein Strohsack auf der Diele und ein Kübel für Verwertetes. Ein kleines, mit starken Eisenstäben versehenes Fenster war der Decke gleich. Dies war von nun an mein Aufenthalt. Müde und hungrig von der Fußtour war ich, da trat auch schon der Amtsverweser Hedenius in die Zelle und fragt: „Sind sie die im Verhaftungsbefehl bezeichnete Person? Sie sind also ein Hochverräter und mit dem Tode zu bestrafen!“ Dabei war er sehr salbungsvoll und jesuitisch. „Wenn Sie nun reuevoll alles gestehen, so werden Sie sich ihre Strafe erleichtern und dürfen auf Gnade hoffen.“ Da wurde ich ungeduldig und sagte ihm: „Jetzt bin ich kein Verbrecher, sondern ein Angeklagter, der zum Verbrecher gemacht werden soll, da wird wohl meine Untersuchung, die Sie führen, alles das für Sie Erwünschte ergeben.“ Ich ersuchte ihn, da ich erschöpft sei, mir die Ruhe zu gönnen. Damit hatte ich mir den gefährlichsten Menschen auf den Nacken gesetzt. Höchst gereizt sagte er: „Sie sollen Ruhe haben!“ Zähneknirschend verließ er die Zelle und 12 Tage saß ich da, ohne nur mein 1. Verhör zu bestehen. Man nannte dieses Verfahren, „mürbe machen“. Diese pennsylvanische Haft war für manchen hinreichend, ihn zum Wahnsinn zu treiben. Zu meinem Glück hatte ich aber noch gesunde Nerven. Im 1. Verhör ließ mich dieser Hedenius volle 8 Stunden in der Inquisition ohne Wasser und Nahrung 3 Aktuaren gegenüberstehen. Dieses damalige, höchst umfangreiche Protokoll ist bis zur Stunde noch nicht von mir unterzeichnet. Von da ab wurde es etwas besser. Es mußte täglich ½ Stunde frische Luft im Hof bewilligt werden und die weiteren Verhöre dauerten meist nur kurze Zeit. Meine Mitgefangenen waren Justizamtmann Hitschold, Advokat Haustein, Lehrer Stützner, Viermetz und mein Freund Heerklotz. Wie die Not erfinderisch macht, so verbesserte sie auch unsere Lage. Gegen Bezahlung versorgte uns der Wachtmeister mit besserer Kost, auch Bücher wurden uns erlaubt, in denen wir Briefe ein- und ausschmuggeln konnten. Besuche wurden nur in Gegenwart von Aktuaren erlaubt und durften sich niemals über 5 Minuten ausdehnen. Ungeachtet dessen, scheuten mehrere meiner Freunde nicht, diesen Weg von 4 Stunden, mir 5 solcher Minuten-Freuden zu bereiten. Meiner Frau sollte anfangs der Besuch ganz untersagt bleiben, doch wurde ihr dies einmal gestattet und es war gut so, denn der Schmerz hängt nach. Ein Tag wird mir aber unvergeßlich bleiben. Der 28. August, mein 29. Geburtstag. Gegen 10 Uhr vormittags wurde meine Zelle geöffnet und unter Vorantritt des Wachtmeisters traten 2 liebevolle Mädchen von Buchholz, Sabiene Siegert und Pauline Friedrich, ein. Sie gratulierten und brachten von Freunden einen großen Wäschekorb voll Geschenke, Butterstollen, Wurst, Schinken, Schweizerkäse, Wein, Zigarren usw.  Es hatte wahrlich keinen Raum in der Zelle. Die hellen Tränen liefen mir über die Wangen und selbst der Schließer zerdrücke eine Träne und sprach: „So etwas ist mir in meinem Dienst noch nicht vorgekommen“.

Am 29. September wurde ich mit Viermetz unter Begleitung des Wachtmeisters in geschlossenem Wagen nach Buchholz gebracht, um im Rathaus abgesondert wieder eingesperrt zu werden. Aber was war das gegen Wolkenstein? Wir hatten kein Schloß vor der Tür, konnten einander besuchen, sodaß es uns fast lustig zu Mute war. Am 6. Tage wurde ich auf Handgelöbnis vorläufig aus der Haft entlassen.“

Ein schöner Zug von Freundschaft sei hier noch erwähnt. Während Hesse in der Einzelhaft zu Wolkenstein saß, hatten sich eines Tages eine Anzahl mitleidiger Bürger, etwa 40, nach Wolkenstein ins Amt begeben, und dort zu Protokoll erklärt, daß es nicht wahr sei, daß Hesse zum Kampfe aufgefordert hätte. Die guten Menschen glaubten, ihn damit frei zu machen. Als ihnen der Richter Hesses eigenes Geständnis mitteilte, erklärten sämtliche einstimmig, daß der Richter ihm nicht glauben dürfe, dieweil er öfters Anwandlungen von Geistesabwesenheit hätte und in solchen Momenten allerhand konfuses Zeug rede. Und als der Richter ihnen entgegenhielt, daß mehr als 50 Zeugen beschworen hätten, ihn gehört zu haben, als er seine Aufforderung aussprach, erwiderten sie, daß sie überzeugt seien, daß, wenn Hesse die Wahrheit sprechen würde, diese 50 sämtlich kompromittiert wären. Tatsache ist es, daß Hesse stets ungeschmückt und freimütig die volle Wahrheit gesagt hat, soweit es aber Mitbeteiligte betraf, sich mit eiserner Konsequenz in Schweigen hüllte.

Hesse war zwar wieder zu Hause, aber keine Minute sicher, von neuem wieder verhaftet zu werden. Fast täglich erschienen unter irgendeinem Vorwand Gendarmen, Polizei, Gerichtsdiener in seiner Wohnung, nur um sich zu überzeugen, ob er noch anwesend sei. Dies und die Warnung seiner Freunde bestimmten ihn, alles für eine Flucht vorzubereiten. Von seinem Freund Schönherr, der als Schreiber bei dem Gerichtsverwalter in Siebenhöfen angestellt war, erhielt er ein Reisezertifikat, auf den Namen Karl Weber, Spinnereibesitzer zu Siebenhöfen, lautend, bei Nacht und Nebel auf dem Pöhlberg ausgehändigt. Als er erfuhr, daß seine Freunde Haustein und Heerklotz flüchtig geworden seien, hielt es auch ihn nicht länger. Er schreibt: „Heimgekehrt machte ich nochmals meiner Frau mit dem Wesentlichsten bekannt und nahm abends ½7 Uhr Abschied vom Weibe, küßte meine schlafenden Kinder. Sie drängte mich zum Gehen mit den Worten: „Nimm keinen Abschied von den Kindern, sie könnten plaudern. Geh‘ mit Gott, wenn Du in Europa bleiben kannst, komme ich nach. Wenn Du aber nach Amerika mußt, dann komme ich nicht nach. Lebe wohl!“ Ein Kuß, ein Händedruck, unterdrückte Tränen! Das gute, treue Weib hatte den Gatten, die lieben Kinder ihren Vater und Ernährer verloren, — und ich!  Ich hatte alles verloren, was mir auf Erden lieb und teuer geworden war: die Heimat, Weib und Kinder, Existenz und all mein Glück!  Fort! Fort! Du darfst dir nichts merken lassen, bist ja ein Flüchtling, wie leicht würdest du dich selbst verraten. Ausgerüstet mit einer leeren Reisetasche und 2 geladenen Pistolen, wanderte ich am regnerischen Abend am Mühlgraben hin und eilte dem nahen Walde zu. Nahe Wilhelmsruhe erhielt ich das verabredete Signal meines getreuen Karl Siegert und rasch waren wir im geschlossenen Wagen.“  Dieser bringt ihn bis Zwickau, dort besteigt er den Zug nach Leipzig und über Magdeburg, Köln, Aachen gings bei Verviers über die belgische Grenze. Der Paß war nicht genügend, aber mit Geld kommt er überall durch. In Brüssel suchte er vergeblich seinen Freund Heerklotz. Als er merkt, daß ihm Polizeispitzel nachspüren, wendet er sich über Paris nach Le Havre, um dort ein Schiff zu erreichen, das ihn hinüber ins freie Land Amerika bringen kann, dorthin, wo so viele, und man kann wohl sagen, unter ihnen mit die besten Deutschen, auswanderten, weil ihnen die Heimat nicht die Freiheit gab, die sie zum Leben brauchten. Ein Dreimaster-Segelschiff sollte am nächsten Tage ausfahren. Die Fahrt kostete 75 Franks, doch hatte sich jeder Passagier selbst mit Lebensmitteln für die Reise zu versorgen, vorschriftsmäßig auf eine Reisedauer von einem Monat mit Schiffszwieback, Kartoffeln, Reis, Essig, Mehl, Wein und Kaffee. Jeder hatte sich auf dem Schiff seine Mahlzeit selbst zu kochen und es läßt sich denken, daß es an einem solchen Kochofen an Deck nicht immer ganz friedlich herging. Doch o weh! Als Hesse das Schiff besteigt, kleben an jedem Mastbaum große Plakate in 3 Sprachen, daß alle diejenigen, die nicht mit einem richtig legitimierten Auswanderungspaß versehen seien, zurückgewiesen würden. Hier an der Pforte der Freiheit galt es mutig und gefaßt zu handeln. Als Hesse angerufen wird, tritt er kühn auf den Gendarm zu und sagt: „Monsieur, non paríe francais, non paß“! und zeigt ihm einen blanken Fünffranker. Der sieht sich um, ob es auch niemand gewahre, sieht ihn an und nimmt das Geld aus seiner Hand und schiebt ihn nach der Oeffnung. Das Wafstück war gelungen.

Schweres mußte er im neuen Lande erst erdulden. Gleich bei der Ankunft von Deutschen um seine ganze Barschaft betrogen, mußte er das ganze Elend mittelloser Einwanderer kosten. Wochenlang arbeitslos umherirrend, dann als Holzhacker, Wasserschlepper, kümmerlich das Essen verdienend, erreichen ihn noch dazu trübe Nachrichten aus Buchholz, wo das Gericht von der verlassenen Frau 100 Taler Untersuchungskosten herauspreßte, wo im Herbst seine 2 Töchter starben. Während er selbst Hilfe bedurfte, traf er drüben auf den ehemaligen Annaberger Lehrer Stützner, dem das Einleben in die neuen Verhältnisse noch schwerer fiel. Dieser hing sich Hesse wie eine Klette an, bis Stützner 1857 an der Schwindsucht starb. Nach schweren Enttäuschungen gelang es ihm doch, sich endlich emporzuarbeiten und eine angesehene Stellung zu erwerben. Stets hat er sich die Liebe zum Vaterland, das ihn von sich gestoßen, bewahrt. Nachdem er schon 1867 einmal Buchholz anläßlich der 25-Jahrfeier der Lantane besucht hatte, bei der ihm ein begeisterter Empfang und liebvolle Aufnahme zuteil wurde, kehrte er 1886 wieder für immer nach Buchholz zurück. Seine Frau war ihm doch noch auf sein Bitten nach Amerika gefolgt, doch verlor er drüben auch seinen einzigen Sohn. In Newyork gründete er einen Turnverein, der noch heute ein Sammelpunkt der Deutschen in dieser Stadt ist. 1895 verstarb er hochgeehrt von all seinen Zeitgenossen.

Wie unserem Hesse Fritz erging es auch vielen anderen. Im Dresdner Hauptstaatsarchiv liegen noch heute dicke Stöße von Prozeßakten über die Buchholzer Insurgenten, so gegen: Zierold, Pilz, Mann, Tröger, Werner, Viermetz, Flemmig, Hillig, Heinicke, Ebeling, Nier, Hinkel Schneider, Estel, Lötzsch, Reim, Fischer, Bürgermeister Koch, Dr. Müller u. a.  Die Aussagen der Angeklagten sind natürlich meist inhaltlos. Die meisten können sich nicht mehr recht besinnen. Bei den wichtigsten Sachen waren sie nicht dabei gewesen, man ist bei der Ansprache des Bürgermeisters fortgegangen und hat ein Tröpfchen Bier getrunken. Die nach Dresden gezogen sind, haben nur sehen wollen, wie die Sache dort stünde oder haben ihre Verwandten besuchen wollen. Uhlmann hat die Flinte nur zum persönlichen Schutz mitgenommen. Ein besonders Schlauer gibt an, er habe dem König helfen wollen.

Wie es auch sei, wir, die wir selbst eine Revolution erlebt haben und sicher beim Lesen dieser Lebensbeschreibung Hesse’s unsere Parallelen in Gedanken gezogen haben, müssen erkennen, so verabscheuungswürdig auch das Vergießen von Bruderblut ist, sie alle handelten doch aus dem tiefen Gefühl heraus, dem Vaterland, dem geliebten, teuren, zu Freiheit, Recht und Wohlstand zu verhelfen.