Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 18 – Sonntag, den 2. Mai 1926, S. 1
Ein Stück Erinnerung aus erzgebirgischer Vergangenheit nach den Erzählungen alter Buchholzer.
In den 1890er Jahren, als sich der Verkehr auf der Karlsbader Straße immer mehr und mehr steigerte, wurden Wünsche laut, den verkehrshindernden Engpaß auf der Karlsbader Straße am Zusammenschnitt mit der alten Schlettauer Straße, den die Hausgrundstücke des in Laubegast bei Dresden wohnhaften Ernst Görlich, Brandkat.-Nr. 281 A, der Emilie Lötsch, Brdkat.-Nr. 280 A, des Bäckermeisters Hempel, Brdkat.-Nr. 279 A, und des Schankwirtes Karl Gottlob Burkert, Brdkat.-Nr. 282 A, bildeten, zu beseitigen. Auch das damalige Rats- und Stadtverordneten-Kollegium beschäftigte sich mehrmals eingehend mit der Frage der Behebung dieses Verkehrshindernisses. So wurden nach und nach, zum Teil langwierigen Verhandlungen mit den einzelnen in Frage kommenden Grundstücksbesitzern die Grundstücke von der Stadtgemeinde Buchholz unter Bringung großer Geldopfer käuflich erworben. Für das Görlichsche Grundstück wurde ein Kaufpreis von 33.000 Mk., für das Lötschsche ein solcher von 27.000 Mk., für das Hempelsche 16.500 Mk. und für das Burkertsche 23.000 Mk. bezahlt. Die Kaufgelder wurden aus Anleihmitteln bestritten. Die Grundstücke hatten eine Größe von 19, 17, 9 und 19 Quadratruten. Zunächst wurden diese Gebäude von der Stadt weiter vermietet. Am 29. Juli 1892 wurde dann das Lötschsche Grundstück als erstes zum Verkaufe auf Abbruch öffentlich ausgeschrieben. Zum Preise von 130 Mk. erwarb der Maurer Wenzl Kunz dieses Gebäude auf Abbruch. Mit der Zeit wurden dann auch die übrigen Gebäude abgebrochen. Die durch den Abbruch gewonnenen Grundstücke (das Bäckermeister Hempelsche und Burkertsche) wurden teilweise zum Postneubau und teilweise zu der ebenfalls nötigen Verbreiterung der alten Schlettauer Straße verwendet und die übrigen beiden (das Görlichsche und das Lötschsche) ausschließlich zur Verbreiterung der Karlsbader Straße.
Wie ein Märchen aus alter guter Zeit muten die Bilder der vorliegenden Erzgebirgischen Heimatblätter unserer Obererzgebirgischen Zeitung an, und doch ist es noch gar nicht allzulange her, daß diese Denkmäler aus alter Zeit, die dem Zentrum unserer Stadt ein so altertümliches Gepräge gaben, abgebrochen wurden. Den Engpaß nannte man also in alter Zeit das Stück Karlsbader Straße, an dem das heutige Postgebäude steht. Auf der einen Seite gegenüber dem Hause des Herrn Bäckermeister Breitfeld befand sich das Rudolf Lötschsche Haus (Bild 2 und 4) und gegenüber des Hause des Herrn Stadtrat Schluttig (früher Carl Wußing) stand das Seifensieder Lötsch-, später Görlichsche Haus, das auf unserem 3. Bilde zu sehen ist, beide Häuser die Giebelseite nach der Karlsbader Straße zu gerichtet. Der Treppenaufgang zum Lötsch-Haus befand sich also gegenüber dem jetzigen Irmer-Haus; der Eingang zum Görlich-Haus an der Kirchgasse gegenüber dem Stadtrat Langstraßenschen Haus, das jetzt im städtischen Besitz ist. Die Karlsbader Straße war hier kaum fünf Ellen breit, sodaß die Bezeichnung Engpaß sehr bezeichnend war. In die Hausflur des Wußingschen Hauses, die sich an der engsten Stelle des Engpasses befand, hat sich so mancher Passant im letzten Moment gerettet, sonst wäre wohl manches Unglück hier passiert.
Im Hintergrund sieht man auf unserem 4. Bild quer vor dem Engpaß ein weißes Gebäude stehen – das ist das jetzige Fleischer Roscher-Haus, welches bekanntlich früher ein schmucker Gasthof „Stadt Karlsbad“ mit Tanzsaal war. „Stadt Karlsbad“ gehörte s. Zt. zu den bekanntesten Vergnügungslokalen der Umgebung. Unsere Großväter und -Mütter haben hier flott nach alter Weise das „Tanzbein geschwenkt“, und liebe, süße Walzerweisen haben hier gar manches Pärchen zusammengeführt. Der Gasthof selbst war geräumig und gehörte einem gewissen Kreher aus Prag. Wenn in Annaberg ein großes Volksfest, wie die „Kät“, abgehalten wurde, dann gehörte eine Einkehr in den Gasthof „Stadt Karlsbad“ für die Schlettauer, Sehmaer, Cranzahler, Neudorfer usw. zu den Selbstverständlichkeiten. Man spannte auch hier gern aus, weil in Annaberg alle Gasthöfe schon besetzt waren. Auch bei Görlichs wurde gern noch ein Schnäpschen getrunken und führte zu manchen ergötzlichen Bild für die Nachbarn. Die übermüdeten Kätbesucher belagerten auch gern die Stufen am Görlich-Haus zu nochmaliger Rast, denn damals kamen sie noch auf Schusters Rappen, nicht wie heutigentags mit Auto und Eisenbahn. Im Engpaß herrschte an solchen Tagen reges Leben. Ein Schupo-Beamter hätte damals hier viel zu tun gehabt, den Verkehr zu regeln.
Der Engpaß war so schmal, daß nicht zwei Wagen aneinander vorbeifahren konnten, selbst zu breit geladene Heuwagen kamen schwer hindurch und haben oftmals, wenn schlecht gelenkt wurde; Fensterläden abgerissen und Fensterscheiben eingedrückt. (Auch heutigen Tages soll derartiges noch passieren beim Fleischermeister Schwipperschen Haus an der Karlsbader Straße.) Die Leute ärgerten sich über die rücksichtslosen Fuhrleute, die mit ihren Ladungen den friedlichen Bürgern die Fenster eindrückten. Da war z. B. der alte Landfuhrmann Schneider, der regelmäßig nach Schwarzenberg fuhr, und immer besonders breit geladen hatte. Schneider war Hengstreiter und betrieb nebenher ein recht einträgliches Geschäft als Landfuhrmann. Neben ihm war der Postillon Kaden, der in der Poststube, welche in der Apotheke eingerichtet war, die Buchholzer Postpakete abholte und seine große Brieftasche füllte, einer, der zu den regelmäßigen Passanten des Engpasses zählte. All diese Gestalten werden mit den Bildern unserer Heimatblätter heute wieder lebendig.
Das Rudolf Lötsch-Haus (Bild 2 und 4) gehörte dem Vater der noch heute im Hause des Herrn Buchdruckerei-Besitzers Bieber lebenden Frau Modes, die uns in liebenswürdiger Weise auch das von Herrn Emil Brauer seiner Zeit aufgenommenen Engpaßbild zur Verfügung gestellt hat. Herr Lötsch betrieb hier ein Schnittwaren-Geschäft und die Einwohner auch aus der Umgebung deckten bei diesem reellen Geschäftsmann ihren Bedarf an Wäsche, an Stoffen usw. Das Haus blieb bis zum Abbruch im Besitz der Familie Lötsch. Nach dem Abbruch kaufte die Familie das Haus, in dem jetzt die Commerz- und Privatbank untergebracht ist, also das Haus in der Nachbarschaft. Dieses ging später an die Familie Pursch über, als s. Zt. das alte Pursch-Haus und das ehemalige Merkel-Haus, von dem wir demnächst Bilder bringen werden, niedergerissen wurden. An Stelle dieser beiden Häuser wurde in den Jahren 1906/07 vom derzeitigen Besitzer der „Obererzgebirgischen Zeitung“, Herrn Friedrich Seidel, ein neues großes Geschäftshaus errichtet, das im vergangenen Jahre behufs Betriebsvergrößerung abermals eine bedeutende Erweiterung erfahren hat.
Unsere alten Einwohner erinnern sich gern auch des Seifensieder Lötsch und der Familie Görlich, die Besitzer des Görlich-Hauses waren, welches als 3. Bild auf der Titelseite unserer heutigen Heimatblätter zu sehen ist. Auch dieses Haus hat seine eigene Geschichte:
Zu einem der reichsten Bürger der Stadt gehörte s. Zt. ein gewisser Kreuzburger. Der alte Kreuzburger war ein Junggeselle, der regelmäßig die Leipziger Messe besuchte. Die Fahrt nach Leipzig geschah auf Fuhrwerken und mußten die Reisenden oft umsteigen, um nach langer beschwerlicher Fahrt die alte Meßstadt zu erreichen. Hier in Leipzig trafen sich die Kaufleute aus allen Bundesstaaten. Auch aus Hamburg waren Kaufleute da und Kreuzburger erfuhr, daß von Hamburgern 2 Schiffe versteigert werden sollten, die seit langer Zeit von einer Fahrt nicht zurückgekehrt waren und auf die ein ganz billiger Preis für Spekulanten ausgesetzt war. Kreuzburger wagte damals das Spiel, zahlte einen geringen Preis für die scheinbar verlorenen Schiffe. Das Glück war ihm hold. Die Schiffe kehrten eines Tages in den Hafen zurück und Kreuzburger war über Nacht ein reicher Mann geworden. Man erzählt, daß er 1 Million Taler besessen habe und weit und breit als reichster Mann von Buchholz gegolten habe. Der begüterte Herr war, wie man sagt, ein eingeschworener Junggeselle, – er war deswegen aber durchaus kein Weiberfeind -. Eine seiner Wirtschafterinnen erbte von dem alten Junggesellen Kreuzburger, der übrigens Besitzer der mittleren Mühle (Wußing-Mühle) und des gegenüberliegenden Eckhauses (Schmied Ehrig-Haus) war, 10.000 Taler, sodaß die Wirtschafterin ein begehrtes Goldfischchen wurde und schließlich als junge Seifensiedersfrau, als Gattin eines gewissen Brunn, der vor dem Seifensieder Lötsch das Haus besessen hat, welches unser Bild zeigt, einzog. Brunn konnte sein Geschäft gut ausbauen, war aber so wohlhabend, daß er mit seiner Gattin später ein Gut bei Meißen kaufte und dort als reicher Bauersmann ein gesegnetes Dasein führte. Das Haus und die Seifensiederei erwarb ein Buchholzer Bürger Lötsch (der Onkel des alten sogenannten Zechen-Lötsch) für 1100 Taler und betrieb mit seiner Frau, einer begüterten Tochter aus dem Erbgericht Cunersdorf, das Geschäft weiter. Seifensieder Lötsch hatte im Geschäft aber viel Verluste und mußte dasselbe schließlich aufgeben. er siedelte in das jetzige Enter-Haus über, Karlsbader Straße 34. Das Haus, welches unser 3. Bild zeigt, kaufte Herr Görlich und gründete sich das Geschäft neu. Seine Schwiegereltern Ackermann waren die Herausgeber der Obererzgebirgischen Zeitung, die dann in den Besitz der Familie Hollstein übergegangen ist. Eine Schwester der Frau Görlich war in gräflichen Diensten, wo auch Herr Görlich tätig war, und auf diese Art jedenfalls seine Gattin kennen lernte. Die Familie Görlich war in Buchholz besonders angesehen und das Haus blieb bis zum Abbruch in ihrem Besitz. Unser Bild von dem Görlich-Haus zeigt zugleich das Ansehen der damaligen Straßenecke Karlsbader Straße – Kirchgasse. Der Treppenaufbau und die Hausflur befanden sich auf der Kirchgasse.
Vor dem Görlich-Haus war ein kleiner freier Platz, auf dem auch Topfmarkt abgehalten wurde. Der alte Topfmarkt war früher vor dem Amalienstift. Nachdem dort aber ein Garten zum Spielen für die Kinder eingerichtet worden war, mußten die Topffrauen ausziehen. Sie hatten aber kein Glück. Schon im ersten Jahr auf dem neuen Topfmarkt fiel vom Görlich-Haus Schnee und Eis herab und zerschlug viele schöne Töpfe. Die Weiber vom Buchholzer Topfmarkt waren darüber sehr erbost und zogen abermals mit ihren Töpfen nach einem anderen geeigneteren Platz.
Im Hintergrund unseres 3. Bildes sieht man weiter die alte Kirche und den Giebel vom alten „Felsenkeller“, in dem Gottlob Burkert manchen Dauerschoppen verschenkt hat und von dem wir ein andermal erzählen wollen.
S. S.