Erzgebirgisches Sonntagsblatt 120. Jahrgang, Nr. 51, 19. Dezember 1926, S. 6
Bruchstück aus der Lebensgeschichte eines anderen alten Annabergers.
Das Annaberger Schulwesen stand in meiner Jugend schon auf beachtlicher Höhe. Mit Recht konnte der Kaufherr Friedrich Bamberg 1871 in der Urkunde zu seiner Stiftung für die damaligen Annaberger Schulen, die Realschule, das Seminar und die Bürgerschule, behaupten, daß sie zu seltener Blüte gediehen seien. Die Bürgerschule, in die ich Ostern 1861 eintrat, stand unter der Leitung des vortrefflichen Direktors Franz Fürchtegott Schmid und besaß viele tüchtige Lehrer. Sie war mustergültig eingerichtet, und ich glaube, daß eben darum das Schulgesetz von 1873 kaum große Umwälzungen verursacht haben wird. Mein erster Lehrer war Franz Schilbach, der uns insbesondere in die Kunst des Lesens nach der damals üblichen Lautiermethode einführte. Ich sehe mich noch vor ihm stehend lautieren, während er auf der Papptafel mit den Buchstabenverbindungen den Zeigestock wandern ließ. Leider starb er schon 1865, noch nicht 37 Jahre alt, an der Lungenschwindsucht. Meine übrigen Lehrer waren: der ernste August Fischer, ein geborener Annaberger, der einen ganz eigenartigen Schreibunterricht erteilte, mich auch später im Klavierspielen unterwies, der würdige Kantor Weber, der heitere und lebhafte Alwin Möckel, der väterliche und humorvolle Siegmund Brückner. In der obersten Klasse, der man zwei Jahre angehörte, teilte sich der ehrfurchtgebietende Direktor Franz Schmid in den Unterricht mit Karl Leuschel, der Deutsch und Rechnen, Naturwissenschaften, Schreiben und Singen vertrat. Wie Franz Schilbach erlag auch er im besten Mannesalter der Lungenschwindsucht, die er heldenhaft mit allen Mitteln der Gesundheitslehre bekämpft hatte. Bei rauhem Wetter ging er mit einem Respirator aus Filz vor dem Munde an der sturmumwehten Kirche vorüber zur Schule.
Von allen diesen meinen Lehrern darf wohl gesagt werden, was ihr Direktor dem einen, Franz Schilbach, im Schulbericht v. 1868 nachrühmte: strenge Gewissenhaftigkeit, unermüdeten Fleiß u. tüchtige Lehrgaben. Sie waren die ersten Wegbereiter für meinen langen, steil aufwärts führenden Bildungsgang. Darum habe ich ihrer immer in herzlicher Dankbarkeit gedacht und oft ihre Gräber auf dem schönen Annaberger Friedhof aufgesucht.
1869 verließ ich die Schule mit einem Zeugnis, das mir im Ueberschwang der Anerkennung meiner Leistungen in allen Fächern die erste Zensur zusprach. Sicher mit Unrecht, denn gerade in zwei der wichtigsten, Deutsch und Rechnen, standen sie nicht auf der Höhe. Es lag das weniger an den Lehrern als an der mangelhaft entwickelten Methode beider Fächer.
Heimatkunde, die heute mit Recht ganz besondere Pflege erfährt und gerade für Annaberg die reichsten und mannigfaltigsten Stoffe bietet, stand damals nicht auf dem Lehr- und Stundenplan. Ein Glück, daß die zahlreichen Denkmäler der Vorzeit Anregung zu gelegentlicher Belehrung gaben: die ehrwürdige St. Annenkirche, in der ich getauft und konfirmiert worden bin, mit ihren zahlreichen Kunstschätzen, der wohlgepflegte Friedhof mit der Auferstehungslinde und dem Denkmal der Barbara Uttmann, die Riesenburg, das nach dem großen Rechenmeister Adam Ries benannte Vorwerk vor der Stadt, die zahlreichen Erinnerungen an den einst blühenden Silberbergbau: die Stollen, Gruben u. Schächte, vornehmlich an den Hängen des Schrecken- und Schottenberges: „Markus Röhling“ u. die „Silberwäsche“, „Bäuerin“ und „Himmlisch Heer“. Sie trugen in meiner Jugend auf ihren Halden, zumeist in den einstigen Huthäusern, einfache Schankwirtschaften, die im Sommer von den Spaziergängern gern als Ziel und Raststätten ausersehen wurden. Wir Kinder ergötzten uns dann auf den berasten u. baumbestandenen Plätzen mit Spielen, die Alten saßen auf den festgepfählten einfachen Holzbänken bei einem Trunke Milch, Kaffee oder Bier, erzählten uns auch Sagen und Geschichten, die sich an diese Oertlichkeiten knüpften. Da mir auch Schriften zur Geschichte meiner Vaterstadt zugänglich waren, verfügte ich immerhin über mancherlei Kenntnisse aus der Vorzeit meiner Vaterstadt. Unterrichtsgänge bot man der damaligen Jugend so wenig wie Schulwanderungen. Die Landschaft wurde mir aber vertraut auf zahlreichen Spaziergängen und in den späteren Schuljahren durch die von meinem Lehrer Karl Leuschel angeregte und von mir mit Leidenschaft betriebene Forschung nach den selteneren Pflanzen der heimatlichen Flur.
Das einzige besondere Ereignis, das den Schulbetrieb außer den Ferien unterbrach, war das alljährliche Schulfest, das 2 Tage in Anspruch nahm. Es begann Montag vormittag mit einem feierlichen Umzug der geschmückten Schuljugend. Die Knaben trugen Fähnchen, die Mädchen Kränze. Ich war nicht wenig stolz, 1868 die große Fahne der Bürgerschule tragen zu dürfen. Am Nachmittag ging es in geschlossenem Zuge nach dem Schützenhause, wo wir unter der Leitung der Lehrer spielten und mit Speise und Trank geatzt wurden. Das wiederholte sich am Vormittag des Dienstag, aber am Nachmittag waren wir uns selbst überlassen, da sich die Lehrerschaft mit Ehrengästen zum festlichen Mahle vereinigte, an das sich ein Schulball anschloß. Die Vorbereitung auf das Weihnachtsfest warf einen Lichtschein auch in die Schule. Am 6. Dezember, dem Niklastage, begann damals der Christmarkt, der die Jugend auch bei strengster erzgebirgischer Winterkälte vornehmlich abends an die Buden der Spielwarenhändler lockte, wo die geschnitzten, oder aus Brotteig geformten Bergleute, Türken und Engel, Figuren der Christgeburt, allerlei Herden mit Hirten und andere Herrlichkeiten zu unserer Augenweide ausgestellt waren. Am St. Niklastag bekam aber auch der Klassenlehrer von seinen Schulkindern einen Niklaszopf, für den er dankte, indem er den regelrechten Unterricht abbrach und eine Geschichte erzählte oder vorlas, es auch nachsah, wenn seine Schuljugend durch brennende Weihnachtslichter und glimmende Räucherkerzchen Weihnachtszauber in der Schulstube zu erzeugen suchte. In der Singstunde wurden vor dem Feste die alten lieben Weihnachtslieder und Choräle eingeübt, die wir dann, zu kleinen Sängergruppen vereinigt, vom Christabend bis zum Hohen neuen Jahr abends in den Häusern auf Flurgängen und treppen vortrugen. Es war das ein Ueberrest der früher im Umherziehen von Erwachsenen in den Stuben der Bürgerhäuser und Bauernhöfe aufgeführten Christspiele, der Hirten-, Engel- und Königschar. Ich kannte sie gut aus den Erzählungen meiner Großmutter, die einst selbst als Maria an ihnen beteiligt gewesen war. Wegen mancherlei Unfugs, der sich im Laufe der Zeit eingeschlichen hatte, waren sie schon längst verboten worden. Aber der Zwickauer Gymnasiallehrer Gustav Mosen hatte die Texte gesammelt und darnach ein Weihnachtsspiel geschaffen, das auf der Bühne dargestellt wurde. Ich entsinne mich, ein solches Spiel, von einer Crottendorfer Laiengesellschaft in Szene gesetzt, im Saale von Bahls Garten gesehen zu haben.
Von der Schule wurden wir auch zum regelmäßigen Besuche des Vormittags-Gottesdienstes in der Annenkirche angehalten. Wir saßen auf lehnenlosen Bänken im Seitenschiff mit dem Blick auf die Kanzel. Im harten erzgebirgischen Winter haben wir in der ungeheizten eiskalten Kirche so gefroren, daß die Andacht nicht allzutief ging. Es genügte uns, Thema und Teile der Predigt erfaßt und niedergeschrieben zu haben, denn nach ihnen wurde am Montag in der Schule gefragt. Der Winter des letzten Schuljahres brachte das besondere Ereignis des Konfirmantenunterrichtes, für den man sich unter den amtierenden Geistlichen, Superintendent Oberpfarrer Franz, Archidiakonus Gareis und Diakonus Wiedemann, einen wählte. Ich ging zum Oberpfarrer, der den Unterricht in seiner Amtswohnung erteilte. Ich entsinne mich, daß er ihn in seiner ganzen Ausdehnung auf das Kirchenlied gründete: „Eins ist not, ach Herr, dies Eine lehre mich erkennen doch!“ Offenbar lag ihm daran, uns das Verständnis des gedankenreichen, aber der Anschaulichkeit gänzlich entbehrenden Liedes zu vermitteln. Die Einführung in die „Hauptstücke“, vornehmlich der Beichte und des Abendmahles, überließ er einem besonderen Vorbereitungsunterricht bei unserm Schuldirektor. Die Ausführungen des Superintendenten würde ein gereifter Zuhörer zweifellos sehr geistreich gefunden haben; uns Jugendlichen wurde es trotz gespanntester Aufmerksamkeit sehr schwer, dem geistlichen Herrn zu folgen, weil uns seine Betrachtungsart religiöser Lehren ganz neu war. Mich drückte immer das unbehagliche Gefühl, so selten eine seiner Fragen beantworten zu können, soweit sie nicht die Wiedergabe von Bibelsprüchen und Liedversen verlangten, in denen wir recht wohl beschlagen waren.