Erzgebirgisches Sonntagsblatt 120. Jahrgang, Nr. 52, 26. Dezember 1926, S. 6
Bruchstück aus der Lebensgeschichte eines andern alten Annabergers.
(Fortsetzung.)
Von der Berufswahl war seit meinem 10. Lebensjahre hin und wieder die Rede. Entsprechend den Verhältnissen, in denen ich aufwuchs, handelte es sich in erster Linie um die Wahl eines Handwerks. Ohne meine damals schon auffällige Kurzsichtigkeit würde mich meine Mutter am liebsten dem Berufe des Uhrmachers zugeführt haben, dessen günstige wirtschaftliche Grundlage sie an einer uns befreundeten Familie erkannt hatte. Meine schöne Handschrift wies auf die Laufbahn eines beamteten Schreibers hin, und ich selbst hatte besondere Neigung für das Buchbindergewerbe. Da kam eine entscheidende Beeinflussung von außen, die auf ein ganz anderes Gebiet hinwies. Der uns benachbarte Kaufmann Franz Schlegel, Inhaber der Firma Gebr. Trübenbach auf der Wolkebsteiner Straße, ein menschenfreundlicher, lieber Mann, hatte meiner Schulprüfung 1867 beigewohnt und darnach meine Eltern angeregt, mich dem Lehrerberufe zuzuführen. Ich hatte nichts einzuwenden, und so wurden die ersten Vorbereitungen hierzu damit getroffen, daß ich, bezeichnend für die damalige Auffassung vom Lehrerberuf, zunächst das Geigenspiel betrieb, und dann auch Klavierunterricht erhielt. Ostern 1869 bestand ich die Aufnahmeprüfung, und es begann meine Berufsbildung.
Die fünf Jahre der Vorbereitung zum Lehrerberuf auf dem alten Annaberger Seminar, der einstigen Röhlingschen Seidenfabrik am Wolkensteiner Tore, sind mir in freundlichster Erinnerung. Der Direktor, Christian Friedrich Schmidt, der als Thomasschüler am Geiste der Alten sich gebildet und dann den Volksschuldienst auf allen Stufen kennen und üben gelernt hatte, war ein ausgezeichneter Schulmann, der in den religiösen und pädagogischen Fächern einen sehr angeregten Unterricht erteilte; ein warmherziger Freund seiner Schüler, denen er gern ihre Fehler und Schwächen nachsah und leicht verzieh. Als mit dem neuen Schulgesetz von 1873 das Amt der Bezirksschulinspektoren geschaffen wurde, nahmen wir an, daß auf ihn die Wahl der Behörde fallen müsse. Seine genaue Kenntnis des sächsischen Schulwesens, seine hohe Lehrbefähigung, seine glänzende Beredsamkeit, seine väterliche Art des Verkehrs mit der Jugend und seine Macht über die Gemüter ließen uns in ihm den geborenen Bezirksschulrat im Stile seines Landsmannes Dinter sehen, zu dessen mittelbaren Schülern er durch den Unterricht bei Bauriegel gehörte. Vielleicht war sein vorgerücktes Alter die Ursache, daß man ihn nicht wählte. Er stand bei Einrichtung jenes Amtes 1874 im 58. Lebensjahre und starb schon am 23. Juni 1875. Statt seiner wurde der Reichenbacher Schuldirektor Eichenberg, ein ausgezeichneter Beamter, aber als ausgesprochener Bürokrat das gerade Gegenteil von Schmidt, Bezirksschulinspektor von Annaberg; bald eine gefürchtete Persönlichkeit in der Lehrerschaft der von ihm verwalteten Bezirke Annaberg und Marienberg. Ein Teil der übrigen Seminarlehrer bestand aus Theologen, in deren Händen Religion und Deutsch lagen. Als ihrer einer 1872 in das geistliche Amt übertrat, erhielten wir in dem jungen Pädagogen Georg Voigt, der eben von der Universität kam, einen tüchtigen Fachmann, der uns in die Lehren der germanischen Sprachforschung und in die beiden Blütealter der deutschen Literatur einführte. Glänzend vertreten waren die realistischen Fächer durch zwei seminarisch vorgebildete Lehrer: Naturwissenschaften und Geometrie durch Karl Steuer, den späteren Seminardirektor von Borna, Erdkunde und Geschichte durch Constantin Clauß, den „allgeliebten Allerfreuer“ seiner Schüler. Hervorragende Begabung ebenso für wissenschaftliche Forschung, wie für praktische Lehrbetätigung, anschauliche Darstellung in fließender Rede, restlose Hingabe an seinen Beruf und die Berufsbefohlenen machten ihn zu einem unvergleichlichen Musterlehrer, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen ungewöhnlichen Einfluß auf das junge Lehrergeschlecht ausgeübt hat, das auf dem Annaberger Seminar ausgebildet worden ist. Die schwärmerische Verehrung für den einzigartigen Mann kam besonders zum Ausdruck, als sich am 13. Oktober 1887 25 Jahre seiner Tätigkeit am Annaberger Seminare vollendeten. Die dankbaren einstigen Schüler feierten den Tag und errichteten eine „Clauß-Stiftung“ im Pestalozziverein. Allgemein und tief war die Trauer bei seinem frühen Tode am 5. April 1902. An seinem Sarge habe ich auszusprechen versucht, was der Verblichene uns, seinen Schülern, gewesen war. Sein Grab haben wir mit einem Denkmal geschmückt, das im Relief die Züge des geliebten Lehrers zeigt.
Unter den Künsten nahm die Musik die erste Stelle und den breitesten Raum ein. Sie mußte jeder betreiben, gleichviel, ob er musikalisch veranlagt war oder nicht. Vertreten wurde sie durch zwei grundverschiedene Lehrer, den frauenhaft weichen Franz Lohse, in dessen Hand der gesamte Gesangunterricht, sowie Orgelspiel und Harmonielehre in den obersten Klassen lag, und den temperamentvollen und leicht erregbaren Hermann Stecher, der vornehmlich Klavier und Geigenspiel, aber auch Orgelspiel und Harmonielehre vertrat. Dem ersteren verdanken wir Schüler die Einführung in bedeutende Werke der kirchlichen Tonkunst. Da er als Kantor an der St. Annenkirche verpflichtet war, jede zweite Woche im Gottesdienst eine Kirchenmusik zu bieten, sangen wir besoners oft Motetten von Bach und seinen Nachfolgern im Kantorat an der Thomaskirche (Doles, Hiller, Schicht), von Moritz Hauptmann und Felix Mendelssohn, auch Chöre aus des letzteren Oratorien „Paulus“ und „Elias“, aus Händels „Messias“, Grauns „Tod Jesu“ und Neukomms „Ostermorgen“. Merkwürdig nur, daß er nie dazu kam, eines der Oratorien ganz aufzuführen. Stecher erteilte einen vorzüglichen Klavierunterricht, den er durch gelegentlichen mustergültigen Vortrag wertvoller Stücke, vornehmlich von Robert Schumann, dem damals besonders geliebten deutschen Tonkünstler, und durch geistvolle Bemerkungen zur Aesthetik und Geschichte der Musik zu würzen wußte. Er, der selbst ein ernsthafter schaffender Tonkünstler war, hat uns besonders zu der Ehrfurcht vor der hohen Kunst und zum Abscheu vor seichter und gehaltloser Musik erzogen. Da ich durch einen meiner Freunde auch über die Seminarzeit hinaus zu ihm in Fühlung blieb, erhielt ich noch manche musikalische Anregung von ihm. In meiner Dresdner Zeit war ich öfters Gast in seinem schönen Loschwitzer Altersheim. Die übrigen Künste, Zeichnen und Turnen, vertreten durch zwei nicht methodisch geschulte Lehrer, lagen im argen. Die Zeichenstunden beim „alten Kost“ waren sicher die heitersten, aber auch die fruchtlosesten. Der ungewöhnlich kleine Herr, der sich in den besten gesellschaftlichen Formen bewegte und trotz seines schmalen Einkommens immer auf tadellose Kleidung hielt, trat 1874 in den Ruhestand, den er in Dresden verlebte, wo er einst Zeichner und Maler gewesen war. Er bezog aber kein gesetzliches Ruhegehalt, sondern nur ein ganz unzureichendes Gnadengeld, um das er alljährlich nachsuchen mußte. Da waren es seine einstigen Schüler von der Realschule und dem Seminar, die zur Sühne für manchen Schabernack, den sie ihm gespielt hatten, Sammlungen veranstalteten, die ihm einen sorgenlosen Lebensabend sicherten. Bei den Versammlungen der in Annaberg gebildeten Dresdner Lehrer wurde er immer mit Jubel begrüßt, und in ihren Familien war er ein häufiger Tischgast.
Für die praktische berufliche Ausbildung verdanke ich viel dem damaligen Seminar-Hilfslehrer Emil Brückner, der uns vornehmlich in die Geheimnisse des Elementarunterrichts einführte, den man in jener Zeit beim Eintritt in das Schulamt gewöhnlich überkam. Wenn ich nicht irre, lebt mein Lehrer Brückner, der 1873 Seminaroberlehrer in Schneeberg wurde, dort noch hochbetagt im Ruhestand.
Das Leben in der Anstalt verfloß in ziemlicher Einförmigkeit, die von den nicht in Annaberg beheimateten Seminaristen mehr empfunden wurde, als von uns Ortsschülern, die wir an den Sonntagen ganz und an den Werktagen zu Mittagtisch und Abendbrot im Elternhause weilten. Heimaturlaub erhielten die auswärtigen Zöglinge nur bei außerordentlich wichtigen Ereignissen in der Familie. Daher war freilich auch Feriensehnsucht und Freude bei ihnen viel größer als bei uns Annaberger Stadtkindern. Der im Laufe des Schuljahres regelmäßig wiederkehrenden Feste und Feierlichkeiten gab es nur wenige: den dreimaligen Gang zum Heiligen Abendmahl, den Geburtstag des Königs, der zu meiner Zeit auf den 12. Dezember fiel, und seit 1871 das Sedanfest.