Die Kräuterfrauen des Erzgebirges.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 32 – Sonntag, den 21. August 1927, S. 3

Besuch bei der Wunderdoktorin.

Merkwürdiges Volk: Es lacht und lächelt über die Altvorderen, über ihren Brauch und über ihren Aberglauben, und ist selbst des dunkelsten Aberglaubens voll. Der Arzt im Nebenhause ist unerreichbar, die Kräuter- und Wunderfrau im Gebirge aber ist von einer aus den fernsten Gegenden herbeiströmenden Klientel umlagert.

Fast jeder Ort im Elbetal, ja selbst die großen Städte, haben ihre Kräuterfrauen. Und man kennt sie und überliefert von Familie auf Familie, von Generation auf Generation ihren Ruf und die Geschichte ihrer „Erfolge“. Je näher man ans Gebirge herankommt, um so ärger wird es … Begnügt man sich in den Städten mit der „Verschreibung“ bekannter Kräutertees, wie Brennesseltee gegen Husten, Eisenkrauttee gegen Zahnschmerz, Wegerichtee gegen Verdauungsstörungen, Baldrantee gegen Geschwüre, Schafgarben- und Kamillentee gegen Magenschmerzen usw., so werden im Gebirge bei gewissen berühmten Kräuterfrauen schon viel größere medizinische Probleme gelöst.

Alte Weiblein, nicht selten aus alten Kurschmiedsfamilien stammend, zugleich die vorzüglichsten Kennerinnen all der unzähligen Heilkräuter, die Wald und Wiese sicherlich bieten, das sind die Wunderfrauen im täglichen Leben. So man sie aber um Ratschläge angeht, da werden sie mißtrauisch, ja sogar hartnäckig abwehrend, ganz durchdrungen von ihrer Mission, und es helfen fast durchweg nur gute Worte und offentsichtlich zur Schau getragener überzeugter Glaube an diese Mission, um sie zur „Ordination“ zu bewegen. Geschenke allein, ohne diesen Glauben, treffen taube Ohren, denn diese Wunderfrauen haben ihren traditionellen Stolz … Im übrigen ist ihr Stübchen von sauberster Reinlichkeit, und von Faustens naturalistischer Hexenküche keine Spur. Gläser und Phiolen mit hunderterlei Tees durchweg harmlosester Art sind das einzige „Handwerkszeug“. So ist es heute!

Früher war das anders! – Ich habe auf meinen Streifzügen durch das Erzgebirge die besondere Gunst einer alten Kräuterfrau gewonnen, so daß sie mich einen Blick in das Kräuterbuch ihrer Altvorderen tun läßt. Vom Alter geschwärzt, kaum lesbar, aus dem 17. Jahrhundert stammend, enthält es wohl die kuriosesten Ratschläge, die ich je in solch alten „Kunst- und Kräuterbüchern“ fand. Und ein ebenso alter handschriftlicher Kommentar ergänzt das Werk auf jenen medizinischen Gebieten, deren delikate Natur eine Wiedergabe unmöglich macht. Als besondere Empfehlung prangt auf dem Buche: „Herausgegeben von einem geborenen Zigeuner!“

Seltsame Ratschläge finden sich in dem Werkchen, Ratschläge voll unappetitlicher Drastik, die aber trotzdem nur in den seltensten Fällen herb wirken, zum Beispiel: „So ein Mensch den Husten hat, nimm kochende Zwiebelsoße und bestreiche damit die Fußsohlen!“ – „So ein Mensch das Reißen in den Gliedern hat, so bestreiche die kranken Glieder mit dem Saft aus gekochten Regenwürmern!“ – „Brüche kann man mit dem Saft gekochter schwarzer Schnecken heilen!“ – „Hat der Mensch den Wurm an einem Gliede, so stecke er dieses in siedende, frische Ochsengalle!“ – „Wenn ein Mensch die Kolik hat, presse er drei Tropfen Pferdedreck in Branntwein und nehme es ein!“ – „Dreht diese Kur ihm dann den Magen um, so nehme er gestoßenen Knoblauch mit Koriander vermischt und im Wein getrunken!“ – „Gegen die Schwindsucht hilft eine Suppe aus Fuchsleber und Fuchslunge mit Hunde- und Menschenschmalz vermischt!“ – „Hühneraugen zerstört schwarzes Schneckenwasser!“ – „Venerische Krankheiten werden mit Alaunsalben und Bernsteinöl geheilt, Krätzen mit gebratenen schwarzen Schnecken (schwarze Schnecken sind überhaupt eine Art Universalheilmittel!), weiße Hände bekommt man durch Waschen derselben in gekochtem Hühnereierschalenwasser und Betrunkene macht man durch Einflößen von gekochtem Eidottersaft wieder nüchtern.“

Noch kurioser sind die Ratschläge gegen die verschiedensten, selbst die schwersten Frauenkrankheiten. Sie beweisen, welch fürchterliches Unheil wohl seinerzeit nicht selten durch die Kurpfuscherinnen angerichtet worden sein mußte. Lakonisch ist die Lösung der großen geheimnisvollen Problemfrage: „Wird’s ein Bub‘ oder ein Mädel?“ Die Antwort ist höchst einfach: „Ist der Leib der werdenden Mutter auf der rechten Seite besonders stark, so trägt sie ein Knäblein, ist aber die linke Seite stärker, so ist es ein Mägdelein!“ – Im übrigen gaben die alten Kräuterbücher auch heilsamen Rat gegen Elementarereignisse: so brauchte man nur einen „Kreuzvogel“ im Haus zu halten, um sich gegen Blitz und Wetter zu schützen.

Stundenlang wandern oder fahren noch heute Abergläubische sowohl im Elbetal als auch im Gebirge zu den berühmten Kräuterfrauen. Diese sind auch heute noch „Universalgenies“ und ordinieren auch für Kranke, die sie gar nicht sehen und kennen und von denen man ihnen bloß ein vages, kursorisches Krankheitsbild erzählt … Freilich kann heute durch ihre Tätigkeit kaum mehr viel Unheil angerichtet werden, denn über Tee’s wagt sich keine der Kräuterfrauen in ihren Medikamenten mehr hinaus. Trotzdem aber: Vielleicht das letzte Stück Mittelalter, das unsere Gegenwart noch miterlebt! In den alten, wurmstichigen Truhen ruhen die alten Kunst- und Kräuterbücher.

E. W. E.