Die Pässe des Erzgebirges.

Von Dr. ph. Heinrich Schurtz. Mit einer Karte. Leipzig, J. J. Weber 1891.

Im vorigen Jahre erschien von demselben Verfasser bei J. Engelborn in Stuttgart: „Der Seifenbergbau im Erzgebirge und die Walensagen”, ein Buch, das wir seines anregenden kulturgeschichtlichen Inhalts halber später eingehend besprechen werden Heute lenken wir die Aufmerksamkeit unserer Leser auf die oben angezeigte, nicht minder interessante Schrift, welche Dr. Schurtz, ein geborner Zwickauer, zum Antritte seiner Vorlesungen in der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig als Habilitationsschrift verfaßt hat. Es ist uns hier freilich nur möglich, in der Kürze auf den Inhalt der Schrift hinzuweisen und die Ergebnisse der historischen Folgerungen des Verfassers anzufügen. Nachdem der letztere den nach orographischen und anthropogeographischen Erwägungen zu bestimmenden Begriff des Passes erörtert und das Erzgebirge als eine von Nord nach Süd aufsteigende, nach Böhmen aber steil abfallende Hochebene bezeichnet hat, die in den ältesten historischen Zeiten trotz ihrer Unwirtlichkeit den ersten Eroberern keine unübersteigliche Schranke war, gelangt er zu dem Ergebnisse, daß die größeren Städte und Verkehrsmittelpunkte am Fuße des höhern Erzgebirgs ihre Entstehung nicht den Gebirgsstraßen verdanken. Es haben vielmehr die Städte, welche ursprünglich Mittelpunkte der Kultur fruchtbarer Landstriche oder ergiebiger Bergwerksdistrikte waren, mit der Zeit bewirkt, daß sich aus der Fülle möglicher Straßen bestimmte Gruppen ausschieden und vorwiegend entwickelten. Hierauf werden von dem Verfasser die von Dresden, Freiberg, Chemnitz und Zwickau aus über das Gebirge führenden Pässe eingehend besprochen.

Als der älteste und natürlichste Paß von Dresden nach Böhmen wird, da Dr. Schurtz das Elbsandsteingebirge als ein Anhängsel des Erzgebirges betrachtet, die Elbe genannt. Dort, wo das Elbthal sich verengt, zweigen sich die Pässe von Dresden und Pirna ab, von denen der erstere anfangs der wichtigere gewesen zu sein scheint, bis er von dem zweiten allmählich überflügelt und ersetzt wurde. Über den Kamm des Gebirges bestanden schon sehr früh verschiedene Übergangspunkte, indem hier ein Zwang zu einer unabänderlichen Richtung der Straße wie unten in den Thälern nicht geboten und auch der Abstieg nach Böhmen an verschiedenen Stellen möglich war. So bestand ein wichtiger Gebirgsübergang des Passes von Dohna am Mückenberge. Über den ehemaligen Zustand der Straße Dohna-Kulm fehlen die Nachrichten, doch scheint der Name des „Langenbrückenberges” bei Häselich darauf hinzuweisen, daß hier, wie auch anderwärts, sumpfige Strecken durch Knüppeldämme wegsam gemacht waren.

Die Straße von Pirna folgte zunächst dem Seidewitzer Bache bis Zehista, erstieg dann die Hochfläche, kreuzte das Thal der Gottleuba, erreichte dann wieder die Hochfläche und berührte die Orte Cratza und Hellendorf, Peterswalde, Jungferndorf und Nollendorf. Wahrscheinlich hatte auch diese Straße verschiedene Übergänge nach Böhmen.

Die genannten Straßen bestanden lange bevor Dresden zu einem Mittelpunkte des Verkehrs heranwuchs. Eine neue Straße, die über Dippoldiswalde-Altenberg, bildete sich vielleicht erst heraus, nachdem Dresden 1455 das Niederlagsrecht für die nach Böhmen gehenden Güter erhalten hatte.

Was von Dresden gesagt wurde, gilt auch von Freiberg, welches jünger als die Gebirgsübergänge im Quellgebiete der östlichen Mulde und Flöha ist.

Der Verkehr zog sich hier über den Paß von Sayda. Diese auf dem hohen Gebirge gelegene Stadt mußte als ein Ruhepunkt und wahrscheinlich auch als ehemalige Grenz- und Zollstätte einzig durch die Straße nach Böhmen an Bedeutung gewinnen. Jedenfalls spaltete sich diese Straße in der Nähe des Kammes, so daß verschiedene Wege gleichzeitig oder abwechselnd den Verkehr von und nach Böhmen vermitteln konnten. Als ein solcher ist z. B. der Riesenburger Paß, der abwärts nach dem Kloster Ossegg führte, zu nennen.

Übergangspunkte von Chemnitzer Straßen waren die von Christian Lehmann genannten Pässe von Reitzenhain und Preßnitz. Hier hat sich im Laufe der Zeit wenig geändert, da über beide Orte noch heute Straßen nach Böhmen führen.

In seiner Historie von Zöblitz nennt Steinbach „die alte Niederländische nach Böhmen gehende Straße”, welche über den „Hauptwald nach Natzschkau” führe; es ist diese Zöblitzer Straße mit Bestimmtheit als eine Abzweigung des Passes Chemnitz-Reitzenhain zu bezeichnen. Außer derselben gab es noch eine Anzahl von Pässen, in die sich die Chemnitzer Straße fächerartig spaltete.

Während im östlichen Gebirge auf böhmischer Seite die Stadt Teplitz einen Teil der Straßen auf sich lenkte, fehlte weiter nach Westen ein solcher Centralpunkt, und so überschritten die von Chemnitz kommenden und nach Prag Reisenden die Eger an einem anderen Punkte als diejenigen, welche das westliche Böhmen besuchten. Die Prager Straße lief über Reitzenhain und überschritt bei Saaz oder Postelberg die Eger, der westlichste Paß dagegen, der von Preßnitz, führte auf Kaaden, und wer Brüx und die fruchtbare Ebene der Biela zu erreichen strebte, brauchte die Eger überhaupt nicht zu kreuzen.

Bei Besprechung der von Zwickau nach Böhmen führenden Pässe weist der Verfasser zunächst darauf hin, daß ehemals nur lokale Beziehungen das westliche Erzgebirge mit den benachbarten Strichen Böhmens verbunden haben; der Westen des Erzgebirges war dichter bevölkert und in jeder Hinsicht ein selbständigeres Kulturgebiet, als die bisher in Betracht gezogenen Gegenden des sächsisch-böhmischen Grenzlandes. Wenn auch infolge der Silberfunde von Annaberg, Joachimsthal, Schneeberg und Marienberg und dem Anwachsen der Einwohner neue Straßen entstanden, so hat sich doch die Zahl der eigentlichen Pässe in diesem Teile des Gebirgs infolge des Bergbaus kaum vermehrt, da der Abfluß des Silbers nach Norden in die Münzen des Landesherrn stattfand und so auch die im Austausch erworbenen Waren meist von Norden kommen mußten. Jedoch hat es weder vor noch nach der Blütezeit des Bergbaues ganz an Verkehrsstraßen über das Gebirge gefehlt. So führte eine solche von Zwickau über Eibenstock, Wildenthal, Sauersack, Frühbuß und Schönlind. Eine Ablenkung von dieser Richtung von Wildenthal über Johanngeorgenstadt, Platten und Bäringen nach Karlsbad ist jedenfalls erst durch das Aufblühen Johanngeorgenstadts veranlaßt worden. Ebenso war eine andere Abweichung der Straße über Hirschenstand und Neudeck nach Karlsbad, auf Zürners Postkarte von 1730 die „kleine Straße” genannt, vorhanden.

Von Zwickau führte außerdem eine Straße über Lindenau, Zschorlau, Bockau und Conradswiese nach Schwarzenberg und spaltete sich hier in zwei Linien, deren eine über Bermsgrün, Crandorf, Breitenbrunn, Wittichsthal, Platten und Bäringen sich nach Karlsbad wandte, die andere dagegen den Paß aufsuchte, der dem Chemnitzer Straßenzuge angehörte, also die Ortschaften Grünstädtel, Raschau, Crottendorf, Cranzahl, Pleil, Preßnitz etc. berührte und in Kaaden endete. Karlsbad als Endpunkt der Zwickauer Straßenzüge kommt erst seit dem Aufblühen der Stadt (nach 1347) in Betracht, vorher dürften Elbogen oder Falkenau die Straßenausgänge beherrscht haben.

Während Zwickau in seinem Verkehre mit Böhmen teilweise auch die Chemnitzer Straße benutzte, schlug ein anderer Teil dieses Verkehrs den Weg durch das Vogtland und über das sogenannte Elstergebirge ein. Derselbe ging über Neumark, Reichenbach, Plauen und Hof. In diese Vogtländer Straße mündete eine andere ein, die von Eger aus jedenfalls bei Graslitz und Zwota über das Erzgebirge führte.

Der Verfasser fügt seiner durch zahlreiche historische Belege begründeten Arbeit endlich folgende Schlußbemerkungen an:

  1. Die Pässe des Erzgebirges werden nur in Einzelheiten durch die natürliche Beschaffenheit des Geländes bestimmt. Die allgemeine Lage und Richtung der Straßen wird dagegen durch Verhältnisse bedingt, deren Ursachen außerhalb des Gebirges liegen; denn die Kulturmittelpunkte befanden sich auch in früherer Zeit nur an der Peripherie des höhern Gebirgsrandes.
  2. Die Flußthäler werden nur im niedrigen Lande von den Straßen benutzt, im Gebirge dagegen sorgfältig vermieden. Die Eisenbahnen dringen meist bis zum Kamme in den Thälern vor.
  3. Die alten Straßen zeigen die Neigung, auf der Höhe des Gebirgs, wo die Thäler flach auslaufen und der Charakter der Hochebene besonders scharf hervortritt, sich zu teilen und über verschiedene Übergänge nach Böhmen hinabzusteigen; diese Teilung ist in der Hauptsache durch die Lage wichtiger Orte und Straßen im böhmischen Tieflande veranlaßt.
  4. Sonach sind die Pässe des Erzgebirges im Vergleiche mit denen der Hochgebirge viel mehr durch anthropogeographische als durch orographische Zustände bedingt.
  5. Die einmal benutzten Straßen hat der Verkehr zäh festgehalten; in ihrer Nähe war das Gebirge ursprünglich am dichtesten besiedelt, bis das Aufblühen des Bergbaues die Verhältnisse änderte.
  6. Gegenwärtig ist das Straßennetz so ausgebaut, daß kaum irgend eine Strecke des Gebirgs von nennenswerter Ausdehnung ohne Verkehrswege ist; damit aber ist es fraglich geworden, ob man im Erzgebirge überhaupt noch von Pässen reden darf. Durch die Eisenbahnen ist bis auf weiteres der Begriff noch einmal erneuert worden, wird aber durch die zunehmende Ausbreitung dieses Verkehrsmittels abermals — und diesmal dauernd — verwischt werden.

Wohlthuend haben uns die folgenden Schlußworte des Verfassers berührt: „Ob es sich der Mühe lohne, eine Frage der Heimatkunde, wie die vorliegende es ist, in eingehender Weise zu prüfen, könnte in einer Zeit wohl bezweifelt werden, die durch glänzende geographische Entdeckungsreisen verwöhnt ist und gleich einem Weitsichtigen es verlernt hat, die Verhältnisse der nächsten Umgebung prüfend ins Auge zu fassen. Aber immer näher rückt die Stunde, in der auch dem kühnsten Reisenden nichts mehr zu entdecken bleibt und die Geographie, statt ferner ins Breite zu gehen, sich auf die Vertiefung ihrer Kenntnisse beschränken muß. Dazu wird auch die Heimatskunde zu ihren vollen Rechte kommen; man wird erkennen, daß Forschungen nicht deshalb leichter oder überflüssiger sind, weil ihre Gegenstände uns nahe liegen und man wird vielleicht auch zugeben, daß nur der die Zustände des Auslandes recht verstehen kann, der die seiner Heimat, in der er wurzelt, wahrhaft begriffen hat”.

Es bleibt uns jetzt nur die angenehme Aufgabe, die Freunde des Erzgebirges, sowie alle diejenigen, welche die Liebe zum Vaterlande dadurch bethätigen, daß sie sich dem Studium seiner Natur und Geschichte mit Eifer hingeben, zum Ankauf und Lesen der wertvollen und fesselnden Schurtzschen Abhandlung zu veranlassen.

Köhler.

Quelle: Glückauf, Organ des Erzgebirgsvereins. 11. Jahrgang, No. 5 v. Mai 1891, S. 39 – 41.

Nach oben scrollen