Eine Sage vom Schloß Greifenstein.

Erzählt von Paul Kühnel.

Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 39. – Sonntag, den 22. September 1929. S. 2

In der Nähe von Ehrenfriedersdorf und Thum liegen die Greifensteine. Es wird erzählt, daß sie zur Zeit der Sintflut entstanden sind. Jedoch gibt es auch allerhand andere Sagen über sie. Eine behandelt das verwunschene Schloß, das sich im Schoße des einen Greifensteins befinden soll.

Vor 200 oder 300 Jahren – so erzählt man sich – lebte in Ehrenfriedersdorf ein armes Mädchen, das den Wunsch besaß, reich zu werden. Traurig darüber, daß es ihm gar nicht gelingen wollte, Reichtum zu erlangen oder einen reichen Mann zu bekommen, ging es eines Tages durch den Wald nach den Greifensteinen zu. Im Walde begegnete ihm ein feiner Herr, so recht nach dem Geschmack des Mädchens.

Der Herr knüpfte mit ihm ein Gespräch an und begleitete es ein Stück des Weges. Dabei offenbarte das Mädchen ihm, wonach es strebe und erzählte von seinem Wunsche nach Reichtum. Der Herr antwortete darauf: „Wenn du glaubst, durch Reichtum glücklich zu werden, so folge mir.” Frohen Herzens folgte ihm das Mädchen.

Der Herr führte es hin zu dem einen Greifenstein. Eine große Eingangstür öffnete sich, und durch einen Vorraum drang man ins Schloßgemach. Die bei allen derartigen sagenhaften Erzählungen erwähnten prunkhaften Innenausstattungen zeigen sich auch hier. So wird erzählt, daß helles Licht die Räume durchflutete, die Bewohner des Schlosses in kostbaren, goldbestickten Seidengewändern umherliefen, von den Wänden goldene Tapeten herunterhingen und alle diese Einrichtungen auf das Mädchen wie ein märchenhafter Traum einwirkten, das sich hier sehr glücklich fühlte.

In dem Schloßgemach traten mehrere vornehme Herren auf das Mädchen zu und boten ihm die Hand zum Gruße. Einer von ihnen fragte: „Du willst gerne reich werden?” Sie bejahte das. Ehe der Frager jedoch die Schatzkammern im Schlosse mit den Goldklumpen zeigte, machte er das Mädchen auf die Gefahren aufmerksam, die Reichtum in sich berge. Er gab ihm zu bedenken, daß auch Reichtum nicht alles Glück auf Erden mit sich bringe. Wie viele hätten sich da schon getäuscht. Dauernde Gesundheit sei ein größerer Reichtum als alles Geld auf Erden. Auch in bezug auf Liebe und Schönheit vermöge Goldreichtum nicht immer glückliche Menschen zu schaffen. Manche schöne Mädchengestalt sei geknickt worden durch Gold, und mancher sonst gute Mensch sei durch Gold zum Verächter seiner Mitmenschen geworden.

Darauf zeigte der Herr die Goldschatzkammern und forderte das Mädchen auf, sich so viel von dem Golde zu nehmen, wie es wolle.

Aber das Mädchen wankte zurück; es konnte sich bei der Wahl zwischen Reichtum und Armut nicht entschließen. Die zu ihr gesprochenen Worte bewegten ihm doch das Innere.

Da gab ihm der Herr den guten Rat, daß es für diesmal nach Hause gehen solle, und wenn es weiterhin Begehr nach Reichtum habe, so könne es jederzeit Gold holen. Der Eingang stünde dann immer offen.

Er führte das Mädchen zurück in den Vorraum des Schlosses, wo der Mann verweilte, den es im Walde getroffen hatte. Er ging mit ihm zurück bis zu der Stelle, wo er ihm begegnet war und verschwand dort plötzlich.

Als das Mädchen allein war, ging es noch einmal zurück zu dem einen Greifenstein, um zu sehen, ob der Eingang vorhanden sei. Aber er war verschwunden. Soviel es auch suchte, nirgends war mehr eine Spur davon zu sehen.

Auch im Laufe der Jahrhunderte ist kein Eingang wieder sichtbar geworden. Das sei das Sonderbare an der Geschichte, so schließt die Sage.