(5. Fortsetzung.)
Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 43, 24. Oktober 1926, S. 6
Ich kam zu dem kleinen Buche auf eine sonderbare Weise: Als junger Mensch von vielleicht 15 Jahren hatte ich einmal in einer in der Buchholzer Straße gelegenen Buchhandlung zu tun. In der Zeit meines Wartens sah ich in einer Ecke einen Haufen bedruckter Bogen als Makulatur liegen. Als ich sah, daß diese Bogen viel Interessantes über den Friedhof enthielten, suchte ich mit Genehmigung des Buchhändlers eine Anzahl Bogen heraus, die ich mir dann zu einem Buche binden ließ. Leider ist es unvollständig. Es enthielt kein Titelblatt, daher kenne ich auch den Verfasser nicht, und außerdem fehlt der schluß.
Eine der in Annaberg bekanntesten Persönlichkeiten war der Zeremonienmeister Unger, der wohl viele Jahrzehnte bei Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen sein vielseitiges Amt getreulich verwaltet hat. Er verstand es vortrefflich, bei Hochzeiten und Kindtaufen in seiner jovialen und gemütlichen Art immer die rechte Feststimmung zu wecken und zu erhalten, andererseits verstand er es, bei Begräbnissen wohltuende Worte für die Hinterbliebenen und auch für die Heimgegangenen in einem Gebet auszusprechen. Sein Amt hatte ihn in alle Kreise der Einwohnerschaft geführt und überall erfreute er sich allgemeiner Wertschätzung. Nach Aufgabe seines Amtes zog er zu seiner in Zwickau verheirateten Tochter. Dort ist er vor einigen Jahren gestorben und hat auf dem schön gelegenen Paulusfriedhofe der nach Zwickau einverleibten Gemeinde Marienthal seine letzte Ruhestätte gefunden. Ihm, der während seines Amtes viele Hunderte von Heimgegangenen, jung und alt, arm und reich, auf ihrem letzten Wege zum Annaberger Friedhif geleitet hat, blieb es leider versagt, in heimatlicher Erde ruhen zu können.
Wenn ich hier in meinen Erinnerungen auch diesem alten, treuen und biederen Annaberger Landsmann ein kleines Kränzlein freundschaftlichen Gedenkens widme, so glaube ich damit im Sinne weiter Kreise der Annaberger Einwohnerschaft gehandelt zu haben.
Als ich an einem der letzten Augusttage d. J. wieder durch das weite Gräberfeld schritt, da wurde mir an dieser Stätte, wo doch fast alle Grabstätten meiner hier ruhenden Annaberger Lieben, Bekannten und Freunde infolge Einebnung verschwunden sind, so recht fühlbar, daß ich hier ein Fremdling geworden bin. In dieser Gefühlsstimmung sah ich in nächster Nähe vor mir eine Frau, durch deren Haar das Alter schon seine silbernen Fäden gezogen hatte, wie sie sich an einem Grabe beschäftigte. — Eine innere Stimme sagte mir, diese Frau ist gewiß eine geborene Annabergerin und eine gleichaltrige aus meiner Jugendzeit. Und als ich dann näher zu ihr trat und sie höflich frug, ob sie eine Annabergerin sei, bejahte sie dies und im Laufe des nun folgenden Gesprächs sagte sie, daß mein Vater und ihr Vater Oe. Freunde gewesen seien und daß sie meinen Vater (der im Jahre 1862, also vor 64 Jahren gestorben ist) noch sehr gut gekannt habe, ihn auch näher beschreiben konnte, da sie damals ja schon 18 Jahre alt gewesen sei. Man wird mir es nachfühlen, welche Freude mir durch diese Kunde bereitet wurde. Daß es überhaupt noch jemand geben könnte, der meinen Vater noch gekannt habe, hätte ich nimmermehr geglaubt. —
Die Sonne begann schon ihre Strahlen zu senken, als wir von dieser Stätte des Friedens schieden und gemeinschaftlich, ich nicht danach aussehend, als ob wir beide zusammen schon über 160 Sommer zählten, in reger Aussprache der „vorigen Zeiten“ gedenkend, durch die prächtige, ihr Blütendach über uns wölbende Lindenallee, nach der Wolkensteiner Straße zuschritten.
Die damals im Volke beliebtesten Musikinstrumente waren die Ziehharmonika und die Gitarre.
Als ich 12 Jahre alt war, lernte ich das Gitarrespiel. Da mein Lehrer auf der oberen Sommerleite und ich auf der Kleinen Kartengasse wohnte, so war es nicht so leicht, im Winter bei Glatteis mit der Gitarre den Berg von der Röhrgasse aus (jetzt Turnergasse) hinaufzukommen. Beim Hinaufgehen hielt ich die Gitarre auf dem Rücken, beim Herabgehen auf dem Leib. Es wäre aber auch leicht möglich gewesen, daß ich die Gitarre beim Fallen doch schließlich auf die verkehrte Seite gehalten hätte. Mit meinem Vetter, einem von der sächsischen Grenze bei Rübenau herstammenden, aber seit vielen Jahren in Annaberg lebenden älteren und biederen Webermeister, der in seinen Jugendjahren öfter in den böhmischen Grenzorten mit der Violine zum Tanz aufgespielt hatte, habe ich dann manchen Abend im häuslichen Kreise zu Lanner’schen und Gungl’schen Tänzen mit der Gitarre begleitet. Wie schon bemerkt, war in den sechsziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Gitarre ein Volksinstrument, das aber damals in den höheren Kreisen keine Beachtung fand. Erst nach Jahrzehnten, als der schwedische Gitarrenkünstler und Sänger Scholander nach Deutschland kam und in den großen Städten Konzerte gab und überall großen Beifall damit fand, ja, dann war mit einem Male die Gitarre und die Laute sa,lonfähig. Es mußte eben der Anstoß hierzu erst vom Ausland erfolgen.
In meinen jüngeren Jahren hatte ich eine in den 20er Jahren stehende Tante, die etwas schmärmerisch veranlagt war, dabei eine angenehme Singstimme hatte und ihre Lieder (wie z.B.: Seht ihr drei Rosse vor dem Wagen, Kommt a Vogerl geflogen, Wenn ich mich nach der Heimat sehn‘ und andere damals gern gesungene Lieder) selbst mit Gitarre, allerdings mit den einfachsten Akkordgriffen, begleitete. Nur ein Uebelstand machte sich dabei geltend, sie war nicht imstande, die Gitarre selbst zu stimmen. (Ich damals als Neunjähriger auch noch nicht). Aber eine Freundin von ihr, die in der Frohnauer Gasse wohnte, konnte es. Zu dieser mußte ich nun, die Gitarre in der Hand, den weiten Weg gehen und von ihr stimmen lassen. Da kam es nun, besonders bei feuchter Witterung, vor, daß, wenn ich mit der gestimmten Gitarre nach Hause kam, diese verstimmter war, als vorher. Aber gesungen wurde trotzalledem.
In meinen musikalischen Neigungen trat bald eine Wendung ein. Im Annaberger Ratskeller konzertierte einmal eine Tiroler Sängergesellschaft, zu der auch ein guter Zitherspieler gehörte. Sein Vortrag nahm mich ganz ein, namentlich als er die „Heimatsklänge“ von Gungl brachte. Meinen Vorsatz, auch das Zitherspiel zu erlernen, konnte ich kurze Zeit darauf auch ausführen, weil ich in eine größere Stadt kam, in der es, was damals (um 1867) noch selten war, Zitherlehrer gab. Seit dieser Zeit sind so fast sechzig Jahre vergangen und in dieser langen Zeit ist mir die Zither eine liebe und immer treue Begleiterin durch mein ganzes Leben bis auf den heutigen Tag geblieben, denn mit ihr habe ich trotz der Stürme des Lebens glückliche Stunden verleben können. Ich hoffe und wünsche aber, auch mit ihr noch möglichst lange vereint zu bleiben.
Hier möchte ich noch bemerken, daß die Zither in ihrer heutigen Form ein vollwertiges Konzertinstrument und als Hausinstrument sehr geeignet ist. Ob in Annaberg das Zitherspiel in künstlerischer Weise gepflegt wird, davon ist mir nichts bekannt geworden. Aufgefallen ist mir nur bei meinem vor kurzer Zeit stattgefundenen Besuche Annabergs, daß ich in den dortigen Auslagen der Musikalienhandlungen nicht eine einzige Zither gesehen habe, dafür aber desto mehr Grammophonplatten! —
Einen musikalischen Genuß erlebte ich vor einigen Wochen beim Besuche eines Gottesdienstes in der St. Annenkirche. Ich hörte nach mehreren Jahren einmal wieder den Kirchenchor, und zwar in der Motette: „Der Herr ist mein Hirte“ von Klein. Ich war innerlich ergriffen, als ich in diesem hehren Gotteshause in andachtsvoller Stimmung den herrlichen Gesang dieses, durch seinen Leiter; Kantor Neumann, sein geschulten und mit guten Stimmen ausgestatteten Kirchenchor hörte. Bei dem nach dem Gottesdienste folgenden Orgelkonzert des Kantors Neumann bot sich den zahlreichen Zuhörern, worunter sich viele Fremde befanden, die willkommene Gelegenheit, die Orgel in der Mannigfaltigkeit ihrer Registrierung kennen zu lernen. Dem Kantor Neumann gebührt für diese besonderen Darbietungen und sein meisterliches Orgelspiel der Dank aller musikalischen Kunstfreunde. —
Schließlich möchte ich noch einer mir im Gedächtnis gebliebenen Episode des Annaberger Liederkranzes gedenken. Das war so vielleicht vor 30 Jahren, da der Gesangverein Liederkranz zu Zwickau sein 50jähriges Jubiläum unter Teilnahme vieler auswärtiger Gesangvereine feierte. Zu diesem groß angelegten Feste war auch eine kleine, aber wahrscheinlich auserlesene Schaar des Annaberger Liederkranzes erschienen. Am Kommersabend traten die verschiedenen Vereine auf. Als dann das kleine Häuflein des Annaberger Liederkranzes auftrat, wuchs die Aufmerksamkeit der Zuhörer. Man fühlte, daß man eine mit prächtigen Stimmen ausgestattete Sängerschaar vor sich hatte. Dazu kam noch vielleicht die besondere Auswahl der vorgetragenen Lieder. Der auffallend stürmische Beifall, der nach jedem Vortrage einsetzte, wuchs immer mehr und man wurde sich bewußt, daß der Annaberger Liederkranz an diesem Abend, wie man zu sagen pflegt, „den Vogel abgeschossen hatte“. Es war ein voller und verdienter Erfolg. (Ein angesehener Zwickauer Kaufmann ließ es sich nicht nehmen, die Annaberger Sänger für den nächsten Tag zu einem Frühstück einzuladen, was sehr ergiebig gewesen sein soll). Ich als Landsmann dieser Sängerschaar freute mich natürlich über diesen außergewöhnlichen Erfolg und gab einen Bericht hierüber in die Zeitung. Wie ich später nach Jahren hörte, hat der Annaberger Liederkranz diesen Bericht unter Glas und Rahmen gebracht und in seinem Vereinslokal aufgehängt.
Wenn ich auf meine Schulzeit zurückblicke, so gedenke ich hierbei in großer Dankbarkeit, Liebe und Verehrung meiner Lehrer: Schuldirektor Schmidt, Vizeschuldirektor Trobitzsch, Oberlehrer Leuschel, Weber, u. a., der sich gewiß viele meiner alten Annaberger noch erinnern werden.