Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 44, 31. Oktober 1926, S. 6
(6. Fortsetzung.)
Das größte und wertvollste Kleinod, welches die Stadt Annaberg besitzt, ist ja ihre weitberühmte St. Annenkirche. Etwas Neues zu ihrem Lobe und Ruhme noch hier sagen zu wollen, wäre vermessen. In ihrer alten Verfassung, wie ich sie, namentlich in meinen Jahren, so um 1860 bis 1867 gesehen habe, machte die Kirche mit ihren aus kleinen gewöhnlichen weißen Tafeln zusammengesetzten Kirchenfenstern und den nur mit einem grünen Firnis überstrichenen steinernen Emporebildern, deren Konturen durch Auftragung von Gold etwas hervorgehoben wurden, einen düsteren Eindruck, der aber durch den grandiosen Pfeilerwald und Altarplatz und seine herrlichen Altäre gemildert wurde. Auf der Orgelseite befanden sich zwischen der Empore und dem Chor noch mehrere Betstübchen. Wenn ich damals als Kurrendaner im Winter früh Sonntags in der Finsternis allein hinauf auf das Chor mußte, so empfand ich immer ein Gruseln, wenn ich den finsteren Gang mit den dort aufgestellten Schränken und Truhen und der alten, knarrenden Diele durchschritt. Durch die in den Jahren 1882 bis 1884 durch Baurat Dr. Mothes aus Leipzig erfolgte vollständige Erneuerung des Inneren der Kirche sind die Betstübchen verschwunden und es konnte hierdurch mehr Platz für die Orgel geschaffen und auch das Chor tiefer gelegt werden. In welcher Schönheit die Annenkirche nach ihrer erfolgten Erneuerung wieder entstanden ist, das sehen wir nun ja alle in steter Bewunderung.
Baurat Dr. Mothes übernahm bekanntlich nach der Erneuerung der Annenkirche die Erneuerung der Marienkirche in Zwickau (an der, wie bekannt, der allseitig hochgeschätzte und gefeierte Geh. Kirchenrat Superintendent Dr. Meyer, ein geborener Annaberger wirkte) nicht nur von innen, sondern auch des reichen äußeren Schmuckes. Dr. Mothes, der gegen 6 Jahre (1885—1891) in Zwickau seinen Wohnsitz hatte, war ein jovialer Herr, der in den Abendstunden regelmäßig im Café „Carola“ erschien, wo er, umgeben von einer regen Tischgesellschaft aus seinem Leben und seinen künstlerischen Ideen viel erzählte. Bei einer solchen Gelegenheit frug ihn einmal ein Gast, „wie es komme, daß die Zwickauer Marienkirche von außen so reichen bildnerischen Schmuck trage, während die Annaberger Annenkirche von außen gar keinen schmuck aufweise“. Da bemerkte Dr. Mothes, daß der Erbauer der Annenkirche schon gewußt habe, daß ein bildnerischer Schmuck an dieser Kirche, die doch sehr hoch liege und allen Witterungseinflüssen in besonders harter Weise ständig ausgesetzt sei, gar nicht erhalten werden könne. Deshalb habe der Erbauer allen bildnerischen Schmuck in das Innere verlegt. Wie Sturm, Schnee und Regen der Annenkirche im Laufe der Jahrhunderte mitgespielt haben, das haben wir ja alle seit Jahren mit Bangen wahrgenommen. Dankbar ist es anzuerkennen, daß Regierung und das evangelisch gesinnte Volk unseres engeren Vaterlandes sich entschlossen haben, der alten Bergstadt Annaberg, die zu alleiniger Tragung der Kosten für die Wiederherstellung des Aeußeren ihrer Annenkirche außerstande war, helfend beizustehen.
Man wolle mir verzeihen, wenn ich bei dieser Gelegenheit auch meiner jetzt sehr bedrängten Jugendfreunde, der Turmdohlen gedenke. Ich habe diese immer muntere Gesellschaft in meinen Kindheitsjahren oft beobachtet, wenn sie sich in den Abendstunden auf dem Dache der Annenkirche in Reih und Glied versammelten und dann wie auf Kommando auf und nach ihren am Wolkensteiner Tor gelegenen Nachtquartieren (den Lindenweg nach der Hospitalkirche) davonflogen. Wie ich wahrgenommen, hat man bei den Erneuerungsarbeiten an der Annenkirche auch sämtliche seit Jahrhunderten von Geschlecht zu Geschlecht vererbten Tageswohnsitze der Dohlen durch Einfüllung von Steinen und Zement eingezogen. Ich kann mir lebhaft denken, daß, wie bei den Menschen, so auch bei den Annaberger Turmdohlen nunmehr Wohnungsmangel und Wohnungselend sich geltend machen wird. Etwas haben sie vielleicht doch vor uns voraus: sie können, weil sie keine Parteipolitik treiben und daher auch keiner Opposition ausgesetzt sind, mit allen Kräften gemeinsam ihrem Ziele zustreben, sich ein neues schönes Tagesheim (man spricht vom „Humpel“) zu gründen.
Mit 12 Jahren fand ich Aufnahme in der altehrwürdigen Kaste der Kurrendaner. Daß die Kurrendanergesellschaft eine alte kirchliche Einrichtung ist, beweist noch die heute im Gebrauch befindliche kupferne Kurrendaner-Sparbüchse mit der eingravierten Jahreszahl: 1695. Die folgende zweijährige Kurrendanerzeit zähle ich mit zu den schönsten meiner Schulzeit.
Wir vier Kurrendaner waren außer dem Schreiber dieses Gustav Hänel (Fabrikbesitzer, Stadtverordneter †), Heinrich Scheffler (Kaufmann, fr. neben der „Goldenen Gans” †) und Emil Söldner (v. d. Röhrgasse, Amtsger.-Rendant in Taucha †). Gefreut habe ich mich, als ich las, daß man in dem Festzuge zur 400jährigen Jubelfeier der St. Annenkirche auch die Kurrendaner an bevorzugter Stelle mit eingereiht hatte.
Ich habe schon gehört, daß manche Annaberger, die früher Kurrendaner gewesen waren, über diese Zeit im Tageblatt „Annaberger Wochenblatt“ berichtet haben. Ich wurde durch die folgende heitere Episode darauf aufmerksam:
Als ich nämlich vor mehreren Jahren in Annaberg war, traf ich auf der Kleinen Kirchgasse einen Kurrendaner im Mantel. Da ich so viele Jahre nichts mehr über die Kurrendaner gehört hatte, so sprach ich ihn an und befragte ihn über dies und jenes. Da überzog auf einmal ein freundliches Lächeln sein Gesicht und er sagte zu mir: „Ach, Sie sind wohl der Herr, der uns mal freihalten wollte?“
Davon wußte ich freilich noch nichts. Auf mein weiteres Befragen stellte sich heraus, daß so ein alter Kurrendaneronkel im Annaberger Wochenblatte über seine Kurrendanerzeit erzählt hatte und ein Freihalten der damaligen Kurrendaner in Aussicht gestellt hatte. Hoffentlich hat er durch die Tat sein Versprechen eingelöst.
Die Tätigkeit der Kurrendaner war zu meiner Zeit noch eine sehr vielseitige. Damals fanden die Beerdigungen noch unter Begleitung der Seminaralumnen und der Kurrendaner statt, die zunächst vor dem Trauerhause und dann auf dem ganzen Wege bis zur Hospitalkirche in kurzen Abständen Trauerlieder sangen.
Dem Trauerzuge voran schritten die Kurrendaner mit dem Kruzifix, daran schlossen sich die Alumnen (12—14) an und dann kamen die Träger mit dem Sarge. Die Träger waren in schwarze Mäntel gekleidet und trugen als Kopfbedeckung Dreimaster. Oft hatten sie in der einen Hand eine Zitrone. Welche Bedeutung dies hatte, ist mir nicht bekannt geworden. Die Alumnen und die Kurrendaner trugen lange schwarze Mäntel und schwarzen Zylinderhut.