Eine Erinnerung von Dr. Curt Treitschke.
Erzgebirgisches Sonntagsblatt 120. Jahrgang, Nr. 52, 26. Dezember 1926, S. 3
Der Verfasser, ein geborener Annaberger, schreibt uns, daß mancher Erzgebirger die in diesem Artikel geschilderte Feier mit erlebte, und die Erzählung aus ernster Zeit daher im Obererzgebirge besonders interessieren wird.
Frostklirrend schritt der November 1918 durch das Rumänenland. Der Vorhang des Krieges senkte sich. Die Mackensen-Armee marschierte über die Transsylvanischen Alpen der deutschen Heimat zu. Auf die schneebedeckten Berge legte die Sonne ihre goldenen Strahlen. Eine Märchenlandschaft! In den Tälern noch die herbstlich gefärbten Bäume, auf denen die Schneekristalle wie feinste Diamanten funkelten, an den Bergeshängen aber die mächtigen Tannenwälder, erstarrt, festgehämmert, weiß geziert in ernster Schönheit. Mit Getöse jagte die Bodza ihre grünen Wässer zu Tal. Wenn sie über die eisüberzogenen Steinblöcke sprangen, gab es ein helles Klingen. Der Himmel flimmerte von Kälte. Gastlich nahm uns Siebenbürgen auf. Während der Schneesturm durch die Dorfgassen, um die alten Wehrkirchen und Rittersburgen pfiff, erzählte man uns am lodernden Kaminfeuer von der Geschichte der Siebenbürger Sachsen, die voll Leid und Kampf, voll Entsagung und Kraft ist. Immer weiter nordwärts geht der Marsch. Die Rumänen drängen von Süden und Osten nach, um uns einzuschließen. In märchenhafter Schönheit steht der Geisterwald, der hart umstrittene. Im glitzernden Kleide des Rauhfrostes wirkt er wie ein kristallener Dom. Jeder Baum ist wie in ein fabelhaftes Wesen verwandelt, jeder Strauch wie in flüssiges Silber getaucht und dabei erstarrt. Die Sonne mild und golden lockert den Schnee auf den Zweigen, daß es leise zu rieseln beginnt. Tiefste Stille. Nur die Bäche murmeln unter der Eisdecke. Zweimal durchbrechen wir mit klingendem Spiel den bereits geschlossenen rumänischen Ring, bei Schäßburg und am Maros. Von Klausenburg aus gelang der Abtransport mit der Bahn, während Rumänen bereits in die Stadt einrücken. Aber in Großwardein bereits müssen die Waffen abgegeben werden. Als Internierungslager wird uns Czod bei Papa bestimmt. Wir sind entschlossen, der völkerrechtswidrigen Internierung Widerstand zu leisten. Nur 2 Kilometer vom Gefangenlager entfernt erzwingen wir den Weitertransport nach Westen. Als der Zug die Station Papa verläßt, bricht die Sonne durch das Schneegewölk und ein prachtvoller Regenbogen spannte sich über uns, ein Himmelszeichen für glückliche Heimkehr. Nach mancherlei Hindernissen erreichen wir am 24. Dezember 1918 die österreichische Grenze bei Fehring, etwa 50 Kilometer östlich Graz. Gerettet! Und just am Weihnachtstage! —
Im Schneefeld stand der Weihnachtsbaum. Eine breitausladende Tanne, deren Zweige sich unter der Last des Schnees beugen, soll unser Christbaum sein. Bald ist er mit Lichtern geschmückt. Wer hat je einen so schönen Weihnachtsbaum gehabt, mitten in der Winterpracht, unter dem Schneehimmel! Seinen weißen Hermelinmantel hat der Winter über Berg und Tal geworfen. Vor uns liegen in stummer Erhabenheit die Berge der Steiermark. — Im offenen Viereck steht mein Regiment um den leuchtenden Weihnachtsbaum. Die Musik spielt den Weihnachtschoral. Kurz spreche ich zur Truppe. Unser schönstes Weihnachtsgeschenk ist die Freiheit und die Hoffnung, die heißersehnte deutsche Heimat bald wiederzusehen. Wir gedenken der gefallenen Kameraden, die in fremder Erde ruhen, denen nicht mehr der Weihnachtsbaum, wohl aber das ewige Licht leuchtet. — Und dann — ja dann: einer hat angefangen, ganz zaghaft und leise, der Nachbar fällt ein und schließlich immer mächtiger anschwellend ertönt das ewig schöne Lied: „Stille Nacht, heilige Nacht“ … Nicht wahr, ergreifend und schön ist es, wenn es Kinder singen. Aber etwas Heiliges war es in dieser geweihten Stunde, als deutsche Männer, erprobt in vieljährigem Kampfe, es sangen.
Sinnend schauen wir auf den Weihnachtsbaum. Heimwärts gehen die Gedanken zu Weib und Kind, zum Elternhaus, zur seligen Kinderzeit. Hören wir nicht wieder die alten Weihnachtsmärchen, die die Mutter einst erzählte? „Stille Nacht, heilige Nacht“. Zum Schneehimmel empor steigt die seelenvolle wundersame Weise. — Es erzählt eine altgermanische Sage, daß in der geweihten Nacht versunkene Glocken auf tiefstem Meeresgrunde anfangen zu läuten. Das sind eben die Glocken der Sehnsucht, die — oft tief verschüttet — in jedes Menschen Herzen schlummert, die Sehnsucht nach dem Ewigen. Darum geht unser Blick vom Lichterbaum empor und wir schauen den Weihnachtsbaum der Ewigkeit.
„Stille Nacht, heilige Nacht“ … Gerade vor hundert Jahren ward dieses schönste Weihnachtslied geschaffen, dort hinter den vor uns liegenden Schneegipfeln der Steierschen Alpen. Da saß am Weihnachtstage 1818 der 26jährige Hilfsprediger Joseph Mohr in einsamer Studierstube im eingeschneiten Oberndorf bei Salzburg. An das Elternhaus dachte er. Da schuf er den Text für ein Lied der heiligen Nacht. Dann stampfte er durch den Schnee zum Lehrer und Organisten Franz Xaver Gruber im benachbarten Arnsdorf und bat ihn, eine passende Melodie zu schaffen. Man erzählt, daß Gruber in Trauer um sein wenige Tage vorher verlorenes Weib die rechte Weise nicht finden konnte. Erst dann, als er die leuchtenden Augen seines Buben unter dem Christbaum sah, floß auf dem alten Spinett mit klirrenden Saiten die wundersame Melodie dahin. Noch am selben Abend sang die Kirchgemeinde von Oberndorf ergriffen das neue Lied und Gruber spielte die Gitarre dazu, denn die Orgel war schadhaft geworden. —
Der letzte Vers verklingt. Leise rieselt der Schnee über den Weihnachtsbaum. Dichter und dichter fallen die Schneeflocken. Millionen und Abermillionen der silbernen glitzernden Schneesterne fallen nieder, ganz lautlos. Sind nicht auch sie ein Gruß aus der Ewigkeit? — Da plötzlich — läuten vom nahen Kirchlein die Glocken. Sie rufen zur Weihnachtsmette. Es geht ein Beben durch unsere Reihen. Warum werden uns die Augen heiß und feucht? Mit zitternder Freude lauschen wir den seit Jahren entbehrten Erzklängen. Nun läuten uns die Christglocken zurück ins glückselige Kinderland. Bald fallen die Glocken der Nachbardörfer ein und die Weihnachtsglocken tragen ihren Schall durch den Schneehimmel. Es ist wie ein Märchen. — In diesem Weihnachtszauber muß jedem das Herz aufgehen. Und so jauchzt aus tausend rauhen Männerkehlen das Dankeslied empor: „O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit“ …
Durch den sich immer höher auftürmenden Schnee stampfen wir zurück zum Eisenbahnzug, der uns heimwärts bringen soll. Bald brennt in jedem Wagen ein Weihnachtsbäumchen. Ein bezaubernd schöner Anblick, als dieser leuchtende Weihnachtszug durch die in stummer Erhabenheit ruhende Winterlandschaft fährt!
Der Schneefall hatte aufgehört. Bitterkalt war die Christnacht, die helle Winternacht. Ein Stern nach dem andern ward am Himmelsgewölbe angezündet. Geheimnisvoll blinkten die zuckenden Sterne auf. Sie blitzten wie Gutes verheißende Augen voll von Wundern. —