In seinem Buche „das Erzgebirge” schreibt M. v. Süßmilch (S. 455): „Oberwiesenthal eignet sich vortrefflich zum Stationspunkte für den Besuch von Keilberg, Fichtelberg u. s. w.; für die Nordseite des Fichtelbergabhanges und dessen Umgebungen jedoch mehr Kretzscham-Rothensehma”. Letzteres, ein ehemaliges Freigut mit der Teichmühle, liegt an der von Crottendorf und Cranzahl über Neudorf nach Unter- und Oberwiesenthal führenden Straße am Nordfuße des bewaldeten Eisenberges. Derselbe ist der zweithöchste, bis zu 1029 m ansteigende Berg des sächsischen Erzgebirgs. Im Westen steigt zwischen ihm und den nördlichen Vorhöhen des Fichtelbergs von Neudorf nach dem Roten Vorwerke die Vierenstraße auf, neben welcher rauschend das Wasser der weißen Sehma in einem tiefen Grunde aufwärts nach letztgenanntem Dorfe fließt, wo sich mit demselben die bei Kretzscham entspringende rote Sehma vereinigt. Kretzscham-Rothensehma ist so recht zu einer Sommerfrische geeignet, und seit mehreren Jahren wird dieselbe auch von einzelnen Personen und ganzen Familien aus Leipzig, Dresden, Meißen, Chemnitz, Mittweida, Crimmitschau u. s. w. besucht, so daß die 15 größern und kleinern Zimmer mit 30 Betten im Gasthause nicht immer alle aufnehmen konnten, sondern einzelne auch in der Mühle und einigen anderen der auf drei Seiten von Wald umschlossenen Häuser bescheidene, aber freundliche Wohnungen suchen mußten. In wenigen Minuten ist der Fichtenwald erreicht, der sich bis in die Nähe von Cranzahl, Bärenstein und Weipert und über die Höhen nach Niederschlag und Stahlberg zu, sowie den Eisenberg ausdehnt. Auf dem Nordabhange des letzteren, dessen einzelne Bezirke als „der spanische Reiter”, „die Schanzen”, „der Stümpel”, „der hohe Stock” und „Krüpelstuhl” bezeichnet werden, läßt es sich bequem bis zum Roten Vorwerke aufsteigen, von welch letzterem der steilste, aber kürzeste Weg zum Gipfel des Fichtelbergs beginnt.
Die durch Kretzscham-Rothensehma führende Straße ist jedenfalls sehr alt; ein von dem Orte nach dem Kirchdorfe Neudorf führender Weg heißt der Fürstenweg. Der jetzt ansehnliche Ort Neudorf entstand zu Anfang des 16. Jahrhunderts aus einigen, des Berg- und Floßwesens, sowie der Waldarbeit wegen angelegten Wohnhäusern und erhielt erst 1599 eine eigene Kirche; vorher war derselbe nach Crottendorf eingepfarrt. Im Jahre 1559 ging Neudorf mit Kretzscham ebenso wie Ober- und Unterwiesenthal und Scheibenberg durch Kauf von den Herren von Schönburg an den Kurfürsten August über. Kretzscham-Rothensehma hat lange Zeit für den Ort gegolten, wo am 8. Juli 1455 der Prinz Albert durch den Köhler Georg Schmidt von Kunz von Kauffungen befreit wurde, und man zeigt heute daselbst noch einen Brunnen, aus welchem der Prinz getrunken haben soll. Jetzt ist diese Ansicht freilich widerlegt. Aber trotzdem fühlt man sich von der Örtlichkeit gefesselt. Durch das Gebirge ziehen sich von der Crottendorfer Gegend bis nahe an Hammer-Wiesenthal Lager von weißem Marmor; auch in der Nähe von Kretzscham wurde früher solcher gebrochen, und Lindner führt in seinen Wanderungen durch das obere Erzgebirge an, daß ein Teil des Trottoirs in der katholischen Hofkirche zu Dresden von hier stammt. Von Kretzscham aus lassen sich zahlreiche Spaziergänge und Wanderungen unternehmen; bald laden der Fichtel- und Keilberg, bald der Bärenstein oder Kupferhügel zu einem Besuche ein; ein anderesmal dehnt man seine Wanderungen nach Weipert oder Wiesenthal und Gottesgab aus oder man benutzt von Cranzahl aus die Bahn, um den Städten Buchholz und Annaberg einen Besuch abzustatten. In unmittelbarer Nähe Kretzschams kann man im Walde angenehme stille Stunden verleben; manches Plätzchen hat eine Ruhebank erhalten. Die Beköstigung in Kretzscham ist einfach bürgerlich und gut, die Wohnzimmer sind freundlich; ein Gärtchen mit plätscherndem Springbrunnen ist auch da; Telephonverbindung und täglich einige Mal Post nach Wiesenthal und Cranzahl fehlen nicht, was will man mehr? Übrigens befindet sich der Kretzscham bereits seit mehr als zwei Jahrhunderten im Besitze der Familie Eberwein. Wolf von Schönburg verkaufte in der Mitte des 16. Jahrhunderts den Erbkretzscham an den Nürnberger Bürger Hans Prenner, und als Cornelius Eberwein und Caspar Seligmann in dessen Besitz kamen, erhielten sie den 27. Juni 1661 die landesherrliche Konzession zu Erbauung eines Malzhauses. Der Kretzscham war neben dem Rechte des Bierbrauens früher mit noch manchen andern Gerechtsamen ausgestattet.
Der jetzige Bestzer, an welchen man sich bezüglich der Sommerfrische in dem empfehlenswerten Örtchen wenden mag, ist Herr Otto Eberwein.
K.
Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 11. Jahrgang. No. 5 v. Mai 1891, S. 41 – 42.