Literarische Bilder Annabergs und seiner Umgebung um 1800 (5)

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 127. Jahrgang, Nr. 6, 4. Februar 1934, S. 1

Von Dr. Ernst Gehmlich, Zwickau.

(4. Fortsetzung.)

Als Ruhheim nach Annaberg zurückkehrte, fand er einen Brief eines Leipziger Freundes vor. Unter dem Eindrucke der landschaftlichen Reize, die sein Auge mit Entzücken geschaut hatte, antwortete er schon von Schneeberg aus: „Du darfst nicht glauben, daß ich über die Schönheiten des Gebirges meine Freunde vergäße; o nein, nie erinnerte ich mich deren öfter, nie wünschte ich sie mehrmalen zu mir, als wenn eine schöne Gegend, eine schöne Aussicht, ein schöner durch grüne Wiesengründe rieselnder Kristallenbach mich ergötzt. – O es muß seliges Entzücken sein, hier dem Freunde in den Arm zu sinken und vereint dann die schöne Natur zu bewundern. O ich begreife es, warum in schönen Naturgegenden die Menschen weit zutraulicher und besser sind, als in einfachem flachen Lande. O wie wahr sind die Worte des herrlichen Dichters, unseres Lieblings:

Natur führt unsern Geist zur Tugend,
Und Tugend führt ihn zur Natur!

Sie sind ebenso wahr als schön, und schon diese Worte allein haben mir eine große Idee von ihrem Verfasser beigebracht, ehe ich sonst etwas von ihm gelesen hatte. O wie oft sind sie mir eingefallen und jedesmal kamen sie mir neu vor.” Dieser Liebling ist Tiedge, „einer der sanftesten, empfindungsvollsten Dichter, die wir haben, dessen herrliche moralische Gedichte häufiger gelesen zu werden verdienten”. So schließt Ruhheim seinen Annaberger Besuch mit einem Erguß empfindsamer Naturbetrachtung und Freundesverehrung.

Im September des Jahres 1800 kam auf einer Wanderung durch Sachsen ein Geistesverwandter Ruhheims nach Annaberg: Christian Kosegarten. Er war 1770 zu Grevesmühlen im Mecklenburgischen geboren, war ein Stiefbruder des um 12 Jahre älteren Dichters Kosegarten. Nach dem Studium der Theologie war er als Hauslehrer in Neustrelitz, Waren und Hamburg tätig gewesen. Da er den Beruf eines Geistlichen nicht aus innerer Neigung ergriffen hatte, studierte er seit Ostern 1800 in Leipzig noch die Rechte und ließ sich später als Advokat in Hamburg nieder, wo er 1821 starb (nach Goedecke VII 322).

Das Ziel der Reise, die er bald nach seiner Ankunft in Leipzig antrat, war Dresden, dessen Kunstschätze ihn lockten. Aber das Verlangen, Gebirge, Bergbau, Manufakturen, Bildungswesen und Volksart Sachsens kennen zu lernen, ließ ihn den Umweg über Chemnitz, Annaberg und Freiberg einschlagen, um in die Landeshauptstadt zu gelangen. Er hatte einen Begleiter, den er nicht mit Namen, sondern nach seiner Körpergestalt immer nur „den Langen” nennt. Das war sein Freund Hartmann, ein mecklenburgischer Theologe. Beide waren so eng miteinander verbunden, daß sie ihre Gedichte gemeinsam in einem Bändchen herausgegeben hatten. Seine Reise von Leipzig durch das Erzgebirge nach Dresden und über Oschatz wieder zurück nach der Stadt seines Studiums schildert er in einem Buche mit dem Titel „Meine Freuden in Sachsen” (Leipzig 1801). Er nennt sich darauf wie auch auf anderen Schriften nur Kosegarten, also ohne Vornamen; denn es machte ihm Vergnügen, wenn man ihn mit seinem Stiefbruder, dem Dichter, verwechselte.

Zu den Freuden, die er in Sachsen genoß, steuerte schon die Stadt Chemnitz einige bei. Von ihren zahlreichen Fabriken begehrte er nur eine zu sehen, die eben (am 20. September) von Wöhler am Schloßberg eröffnete mit ihrer geheimnisvollen Spinnmaschine, die der Engländer Whitefield gebaut hatte. Er durfte sie freilich in der Hauptsache nur von außen betrachten, im Inneren nur das Wasserrad, das 426 Gespinne trieb. In der Jacobikirche bewunderte er Gemälde des berühmgten Leipziger Malers Oeser, die damals ziemlich in Verfall geratene Lateinschule interessierte ihn als Bildungsstätte des großen Philologen Heyne; mit dem Konrektor Lessing, dem Bruder des Dichters Lessing, führte er eine lange, anregende Unterhaltung. Auf ihrer Wanderung nach Süden in das Erzgebirge gönnten sie sich (er und sein Langer) einen ganz besonderen Spaß. In Burkersdorf begaben sie sich in die Schule und stellten sich dem Schulmeister, der in Hemdsärmeln und tief herabhängenden Strümpfen seines Amtes waltete, als holländische Kandidaten der Theologie vor, die auf Reisen gegangen seien, um verschiedene Arten des Schulunterrichts kennen zu lernen. Sie erhielten die Erlaubnis, die Kinder zu prüfen. Das taten sie sehr eingehend, und Kosegarten stellt als Ergebnis fest: „Sollten alle Landschulen Sachsens so gut bestellt sein, als wir die Burkersdorfer gefunden haben, so läuft Sachsen gewiß allen Landschulen Deutschlands den Rang ab.” Durch langgestreckte Dörfer, die sie alle „Endelos” nannten, „weil sie gar kein Ende nehmen”, kamen sie nach Thum. (Kosegarten schreibt fälschlich „Düben”; es finden sich in seinem Buche überhaupt viele Entstellungen von Ortsnamen, die offenbar auf mundartliche Benennungen oder Hörfehler zurückzuführen sind.) Das Städtchen machte auf ihn einen „grundschlechten Eindruck”; „der ganze Flecken gleicht einem Ratzenneste”. Im Rathause kehrten sie ein. „Aber, du heilige Magdalena! wer hätte diesen Schweinestall für ein Rathaus angesehen!” Die Wirtin, „ein rohes, unhöfliches, unsauberes Weib, mauschellierte ihre beiden Jungen und ließ sich durch den Eintritt der Fremden darin nicht stören.” Sie sagte, daß man hier nichts zu essen bekommen könne. „Endlich erhielten wir zähen, mageren Schinken, salzige Butter und saures Bier.” Konnten sie sich also an keinem leckeren Mahle erlaben, so ergötzten sie sich umso mehr in einem Gespräche mit einem Tischgaste, einem Kandidaten der Theologie aus Berlin, der sich auf seine Kenntnis der Philosophie Kants etwas zugute tat. Sie merkten aber bald, wie schlecht er darüber unterrichtet war, und reizten ihn, um sich über seine Unwissenheit zu erheitern, beständig zu lächerlichen Urteilen über die Lehre des Königsberger Weisen. Diese ist, so meinte er, „eine Aufwärmung des schon jüngst von Herrn Steinbart in Frankfurt aufgestellten Systems der Glückseligkeitslehre. Herr Kant hat mit hochtrabenden Worten nichts anders gesagt.” 7) Noch hungrig verließen sie „diesen Ratsweinkeller”. „Das alte Weib prellte uns obendrein tüchtig und wir spuckten für Erbitterung aus. Ich wollte den Staub von meinen Stiefeln abschütteln, aber der Schmutz in den sogenannten Straßen hatte keinen darauf kommen lassen. So lange noch ein Ziegelstein dieses Ortes zu sehen war, skandalisierten wir.” Übrigens bemerkt Kosegarten dazu, daß er „den inneren Vorzügen” dieses Ortes nicht zu nahe treten wolle; der Wanderer finde es fast in allen kleinen Städten nicht besser, er begebe sich lieber „in eine Schenke auf dem Lande”, wo man wenigstens Lebensmittel und Bier erhalte.

Nun ging es aber stracks nach Annaberg. „Es ward wieder übermäßig heiß. Die zwei Stunden bis Annaberg wurden uns herzlich sauer. Das Bergsteigen nahm kein Ende. Lange sahen wir Annaberg, als wir noch durch viele Krümmungen und Höhen vom Einmarsche entfernt wurden. Die Gegend gewann einige Reize, besonders liegt eine Mühle im Tale sehr angenehm. Endlich, ja endlich erkletterten wir den letzten Berg und kamen zum Tore.” Sie kehrten zunächst in der „Sonne” ein und wurden hier von einem alten Mütterchen sorgfältig verpflegt. Dann hielten sie Umschau in der Stadt: „Annaberg machte schon beim ersten Eintritt einen friedlichen Eindruck auf uns. Es ist überaus heiter und reinlich. Alle Häuser sind zierlich angestrichen und alles hat ein so wohlbehaltenes Ansehen, daß man durchaus sich gut darin fühlt.” Sie machten die Bekanntschaft mit „einer durchweg braven, artigen und freundlichen Familie”, „trefflichen Menschen”; sie fanden in ihr wirklich gute Aufnahme, wurden wie Glieder der Familie behandelt. „In Annaberg kann man ohne Steigen keinen Schritt vorwärts kommen. Die Straßen gehen bergauf und ab.” Sie faßten „den tollen Entschluß, einen nahen Berg (offenbar den Pöhlberg) zu besteigen. Der scheinbare Zwerg war ein Riese. Mit vielem Schweiß errangen wir seinen Scheitel. Wir wurden indes reichlich belohnt. Ein herrlicher Schauplatz von Höhen und Tiefen, das Abendrot feierte und dämmerte über dem schönen Städtchen. Es veranlaßte in mir eigene Betrachtungen von großen Bergen umlagert zu sein. Ich kam mich dem Himmel näher vor; die Luft wehte mich reiner an; meine Brust atmete leichter. Ich dünkte mich ätherischer, doch die Nacht begann unsern Rückmarsch unsicher zu machen. Große Felsensteine lagen auf dem Rücken dieses Riesens, die uns nicht auswichen, und wo wir unsere Augen gleichsam in der Hand tragen mußten.”

„Unsere neuen Freunde rieten uns, den Fichtesberg zu besehen, der ringsumher der König des Gebirges sei. Darnach gelüstete mich schon. Ein Herr Fähse, der bekannte Uebersetzer des Plato, war nicht ungeneigt, uns zu begleiten.” (Das war der uns schon bekannte Fähse, der eben erst nach Annaberg gekommen war, um nach Königs Weggang das Amt des Konrektors anzutreten.) Nachmittags 2 Uhr machten sich Kosegarten und sein Langer auf; Fähse und dessen 15jähriger Elene Anger begleiteten sie. Der Fichtelberg „sollte am nächsten Morgen ganz in der Frühe besucht werden. Wir wollten ihm gleichsam seine Geheimnisse ablauschen und die Natur in der schönsten Morgentoilette überraschen.” Die Wanderung ging über Weipert. „Schon verließen wir Deutschlands Grund und Boden und kamen auf böhmisches Land. Zum ersten Male außer meinem Vaterlande, zum ersten Mal im katholischen Lande. Ich empfand etwas Fremdartiges, etwas Besonderes, was ich nicht anzugeben weiß … Die heiligen Kreuze, das Gelobt sei Jesus Christ – in Ewigkeit, statt des Grußes in Sachsen: Gott grüße Sie; die Schwärmerei, welche fast jedem gewöhnlichen Katholiken um die Augen gegraben liegt – das alles erinnerte mich recht deutlich, auf katholischem Grund und Boden zu sein. Wir kamen durch ein kleines Städtchen, Weipert genannt. Wir besahen die Kirche. Ich wunderte mich über den Glanz, der selbst in einer Landkirche, denn dies Städtchen unterschied sich von nichts im Dorfe, herrschte. Ach es ist ein ganz anderer Anteil, den die Katholiken an ihrem Gottesdienste nehmen. Wie heiter, wie heilig sah es hier aus.” Wie anders als auf Ruhheim wirkte doch das Bild der Kirche in Weipert auf Kosegarten. Schlechtes Wetter fiel ein; der Regen machte die an sich schon beschwerlichen Wege fast ganz ungangbar. „Unsere Knöchel und Zehen schrieen alle Augenblicke Barmherzigkeit.” „Ich glaube, diese Wege sind vom Teufel angelegt. Sie sehen gar nicht darnach aus, daß Menschen sie befahren können. Jetzt bildete sich vor uns ein weites Tal; zu beiden Seiten hohe Berge; vor uns der Montblanc Fichtesberg. Der höchste ist immer der Montblanc – die Phantasie steigt auch über diesen – es ist alles Phantom! Nach vielem Schienbeinstoßen und Hoppen und Klettern und Bergsteigen waren wir am Fuße des Montblanc und notabene, in einer Stadt. Sie heißt Wiesenthal. Das Rathaus – ach! Gott die Rathäuser, dachte ich – nahm uns in seinen Schutz. Hier war ein heilloser Tumult, denn übermorgen sollte die Große Messe vor sich gehen. Die Stadt war, wie man sich ausdrückt, von Menschen überschwemmt. Ich ward davon nicht viel gewahr.” Sie bekamen noch ein Stübchen; aus dem, was man ihnen an Speisen anbot, fanden sie kaum so viel heraus, was sie mochten und was sie auch sättigte. Der Wein war sauer; „aber wer wird auch viel Wein in Sachsen trinken!” „Der Hausknecht, ein pudelnärrischer, lustiger Kerl, kam mit vielerlei Pantoffeln, die unsern Füßen angepaßt wurden.” Das schlechte Wetter veranlaßte sie, von einer Besteigung des Fichtelberges abzusehen und dafür eine Fahrt nach dem 3 Meilen entfernten Karlsbad zu unternehmen, zumal sie ein wohlfeiles Fuhrwerk mieten konnten.

(Fortsetzung folgt.)

7) Steinbart (1738 – 1809), Professor der Theologie an der Universität in Frankfurt a. O., hatte mit seinem „System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christentums” ein in der Aufklärungszeit viel bewundertes Werk geschaffen. Aber 1800 war sein Ansehen bereits vernichtet und zwar gerade durch den Einfluß Kants.