Von Stud.-Rat A. Schuster, Annaberg.
Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 16 – Sonntag, den 15. April 1928, S. 3
(5. Fortsetzung.)
Um 1692 trat in Buchholz die Epilepsie, das Kinder-Freßel, Unkraut oder lose Wesen, so stark und mit so eigentümlichen Erscheinungen auf, daß man keine Erklärung dafür fand und die Krankheit als Annabergische Kinderkrankheit in Büchern dieser Zeit mehrfach erwähnt wird. Dr. Andreas Kunad, Superintendent, gab 1717 bei einer synodalischen Festlichkeit ein Buch über diese Krankheit heraus und warf dreißig Problemata darin auf. Melzer hatte schon früher in seiner Gemeinde einen Jüngling, eines Bergmannes Sohn, der schwer daran litt. Man holte den Pfarrer, der neben den Erscheinungen der Epilepsie noch beobachtete, daß „der junge Mann am 15., 16., 17. und 18. Dezember gar seltsame Dinge geredet und gesungen, und wenn er sich erhohlet, doch nichts davon wissen wollen. Und nachdem nun solche seine Reden und Singen notorisch worden, und eben zur selbigen Zeit die entstandene Enthusiastische Pietisterey bedencklich war, habe ich mich gemüßigt befunden, diesen Jüngling selbst zu besuchen und solchen zu Mittage auf seinem Bette liegend angetroffen, und zwar mit aufgehobenen Händen und zugethanen Augen, da er denn per intervalla (in Zwischenräumen) diese Parodie gesungen: Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch schreckliche neue Mähr, der schrecklichen Mähr bring ich soviel, davon ich schrecklich sagen will. Worauf er auch schrecklich geredet und unter anderm öfters das Weh ausgerufen, auch durch Abwechselung geseufzet: Ach Gott, laß Dich’s erbarmen, daß die Menschen der Prediger Straffen nicht annehmen wollen! Gleichwie er auch schreckliche Expressiones wider die Hoffart gebrauchet und dieß dazu gesaget: Ach du liebes Jesulein, du weinest freilich über der Menschen Sünde! Sieh, Teufel, kömstu auch! Weg mit dir! Du hast an mir nichts. Mein Jesulein ist meinem Herzen, u. a. m. Er hat auch wider die stolzen Hauben und spitzigen Schuhe hart gesprochen und gesagt: Liebstes Jesulein, weine nicht, ich muß auch mit dir weinen.“ Der Kranke hatte vorher gesagt, er werde drei Tage so reden und am vierten einen „Erbiß“ (Zugabe?) geben und es geschah alles so bis auf die Stunde. Der junge Mensch wurde dann von seinem Leiden befreit, nahm das Abendmahl und tat eine öffentliche Danksagung. Melzer ist dem gegenüber ratlos, ob er diese Krankheit für eine Ekstase oder Verzückung halten soll oder für eine Art Veits-Tanz oder ob nicht gar eine obsessio spiritualis secundum virtutem diabolicam (d. h. eine Besessenheit des Geistes durch die Macht des Teufels) vorliege. Für ein Teufelswerk scheint ihm manches zu sprechen, zumal Luther auch ähnliche Verm utungen ausgesprochen hat. „Man urtheile aber hiervon, was man wolle, so hat man darbey dieses zu gedenken und zu erwägen, daß, wenn Gottes Wort mit seinen Vermahnungen und Warnungen verachtet und hintangesetzet wird, so dann Gott wohl durch eines gemeinern Mannes Sohn allerley warnen und durch dessen seltsame Zufälle die Menschen bewegen möge, wie ein vornehmer seeliger Theologus davon judiciret. — Aber wie seelig sind doch alle, die das Wort Gottes hören und bewahren!“
Gegen die religiöse Auffassung dieser Krankheit wendeten sich andere Gelehrte und Ärzte, und Melzer hat später (1713) in einem ähnlichen Falle ganz tatkräftig gehandelt. Er erzählt [II, 1713]:
„Im Martio fingen sich die seltsamen Fata mit einigen Kindern und erwachsenen Personen zu Annaberg an. Davon allerhand Schriften herausgekommen. Ob es aber alles natürlich oder übernatürlich gewesen, will ich hier nicht disputieren, nur aber historisch vermerken, daß allhier ein gewisser Knabe, ein valetudinarius (siech, kränklich) und vaterloßer Wayße, fast dergleichen Händel anfangen und deßhalber einen alten, grundehrlichen und einfältigen Mann inculpiren (beschuldigen) wollen, als ob er (als Geist) ihn plagete. Aber da ich, als erfordert, dazu gegenwärtig, einige gezwungene Umstände wahrnehme, und dabey fingierte (mir dachte), wie dergleichen Zufälle bey Knaben aufgehöret, wenn man sie tappfer mit frischen Ruthen gestrichen, hat sich’s gar bald mit diesen Knaben geändert, daß ihme alle Phantasie entfallen und keine Convulsiones (Zuckungen) sich weiter merken lassen —“
Dies möge genügen, um dein schwaches Abbild von dem nimmermüden, hochgelehrten und doch so natürlich denkenden und empfindenden Chronisten zu zeichnen. Es ist noch zu erwähnen, daß er auch als Dichter sich versuchte und mehrere seiner Dichtungen in die Chronik einfügte, doch ist seine zeitgemäße schwülstige Ausdrucksweise in den langen Ausführungen nicht anziehend. Für die Natur scheint er auch tiefes Gefühl gehabt zu haben. Er berichtet mit bedauern [II, 1686], daß man 1686 eine schöne Linde bei der Kirche abgeschlagen habe und erblickt eine Strafe für dieses Vergehen darin, daß der Urheber dieses Frevels an der Natur bald starb, der Sägemüller aber an dem Eisen im Holze sich seine Säge verdarb. Denn man hatte die Linde benutzt, um Bekanntmachungen anzuschlagen. Das Holz wurde für das Schnitzwerk beim Orgelbau verwendet. Abgesehen von den Einblicken ins persönliche Leben und Fühlen des Chronisten ist uns das Werk natürlich deshalb so wertvoll, weil es ein in allen Farben schillerndes Bild vom Leben der damaligen Zeit gibt. Eine ungeheure Fülle Stoff liegt vor und fesselt den Leser immer von neuem, zumal sich der Chronist nicht auf den engbegrenzten Kreis der örtlichen Geschehnisse beschränkt. Manche Frage, die heute noch nicht gelöst ist, tauchte auch damals auf und forderte zur Stellungnahme auf.
Aus der Fülle des Gebotenen mag einiges noch angeführt werden:
Nach dem dreißigjährigen Kriege suchte man die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Für das Erzgebirge hatte der Bergbau größte Bedeutung, doch lag er sehr darnieder. Die Anteile am Bergbau, Kuxe genannt, wollte niemand kaufen, denn der Kuxinhaber erhielt nicht nur „Ausbeute“ in guten Jahren, sondern mußte auch in schlechten Zeiten „Zubuße“ zahlen. Ohne Kapital, d. h. ohne Kuxe, ließ sich aber auch damals kein Bergbau treiben. Das Bergbaudekret von 1629 hatte wahrscheinlich wegen des Krieges nicht durchgeführt werden können, und 1659 wird den Zehntnern, Berg-, Flöß- und Hüttenverwaltern aufgegeben, remedia (Hilfsmittel) zu nennen, wie man dem Bergbau wieder aufhelfen könne.
Neun Jahre danach hat man’s gefunden: Der Berg-Kommissions-Rat v. Schönberg und der Zehntner Hölzel sollen „jedem Individuum ein gewisses in Kuxen nach eines jeden Vermögen zuteilen“, wenn die Bürger dazu nicht bereit seien, so werde man die Bergfreiheit aufheben, das heißt die Zollfreiheit der Bergstädte. Man führte also, ähnlich wie in neuerer Zeit eine Zwangsanleihe, damals Zwangskuxe ein, und man hoffte, wie Melzer selbst, durch das so gewonnene Kapital den Bergbau zu neuem Leben zu erwecken.
Auch Arbeitslosen- und Lohntariffragen beschäftigten die Regierung. Nach dem Kriege hatten viele Leute keine Lust zu regelmäßiger Arbeit, und ein Dekret von 1651 erließ einen Tarif für Dienstboten, Tagelöhner und Handwerker. Im Eingange wird darüber geklagt, daß viele Leute nicht arbeiten wollen, sondern nur dann sich dazu bewegen lassen, wenn bei dringender Arbeit ihnen hohe Löhne bewilligt werden müssen. Damit diese Hilfsarbeiter nicht besser stehen, als die regelmäßigen, soll jeder, der keine Arbeit hat, monatlich einen Gulden Strafe zahlen. Auch soll kein Arbeitgeber höhere Löhne zahlen, als die im Tarif genannten.
20) II, 1713.
21) II, 1686.