Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 43, 24. Oktober 1926, S. 1
Die Kriegerheimstättenbewegung in Annaberg.
Eine der schlimmsten Kriegsfolgen – weil sie von anhaltender Dauer ist – stellt die Wohnungsnot dar. Sie entsprang der gänzlichen Einstellung der Bautätigkeit kurz nach Kriegsbeginn und die Inflation vernichtete alle Pläne eines umfassenden Bauprogramms. Die private Baulust kam fast völlig zum Erliegen. Die Steigerung der Eheschließungen, der Zustrom der Vertriebenen aus den entrissenen Gebieten vergrößerten die Not. Doch Eigenhilfe brachte einen Ausweg: die Siedlerbewegung setzte in allen Teilen Deutschlands ein und schuf Wohnstätten für all die Männer, die bereit waren, unter aufopferungsvoller Arbeit für sich und ihre Familie ein Heim zu erstellen. Besonders Kriegsteilnehmer- und Kriegsbeschädigtenorganisationen wurden die Träger dieser Gedanken.
In Annaberg hatten sich schon im Jahre 1917 die Kriegsbeschädigten zu einer Ortsgruppe zusammengeschlossen, in der seit 1919 an Siedlungsplänen gearbeitet wurde. Im Herbst 1920 wurde dem Verein Gelände am Galgen und Zinnacker zugewiesen, und man verpachtete das Land zunächst an die Mitglieder, um sie zum Gedanken der Gartenheimstätte zu erziehen. Am 25. August 1921 konnte man die ersten sechs Grundsteine legen. Im Frühjahr 1922 nahm der Verein die Vorarbeiten für ein weiteres Gruppenhaus von vier Heimstätten in Angriff. Dieser Bau wurde in eigener Regie ausgeführt, während die ersten Häuser unter der Betreuung des „Sächsischen Heims“, Dresden, standen. Die ausführende Firma war in beiden Fällen Emil Martin, Annaberg. Die neuen Heimstätten konnten infolge der Hemmnisse der Inflation erst im November 1922 fertig gestellt und bezogen werden. Dann zwang die Geldentwertung im Jahre 1923, weitere Baupläne hinauszuschieben. erst die Währungsstabilisierung ermöglichte es, am 5. Juni 1924 den Grundstein zu einer Gruppe von 5 Heimstätten zu legen, womit der Siedlungsplan am Galgen vorläufig zum Abschluß gebracht worden ist. Jede Heimstätte hat einen Wohnraum von 70 bis 100 Quadratmeter, ein eigenes Waschhaus und Stallgebäude.
Im Jahre 1925 wurde das Humpelgelände erschlossen. Am 11. Mai 1925 konnte der Grundstein für 6 Heimstätten gelegt werden. Ein besonders starker Zudrang der Baulustigen setzte in diesem Jahre ein, und es gelang, dank der tatkräftigen Unterstützung der Stadt, im Mai 1926 den Grundstein zu 10 Heimstätten zu legen.
Am 3. Juli 1926 konnte man 5 Hebefeste feiern und die Grundsteine zur 34. und 35. Heimstätte legen. Dieser Tag wurde mit Recht besonders hervorgehoben, denn er bewies in aller Deutlichkeit, was Siedlerwille vermag. Keine Schwierigkeit hat die nach einem eigenen Heim strebenden Männer erlahmt. Je stärker die Widerstände wurden, um so zäher hielten sie an ihren Absichten fest und dank ihrer Unerschrockenheit gelang es ihnen, Haus um Haus erstehen zu lassen.
Im einzelnen stellt sich das bauliche Bild folgendermaßen: Auf dem Galgengelände sind 15 Häuser erstellt und mit 15 Wohnungen, in denen 18 Familien Unterkunft gefunden haben, darunter 3 Familien zur vorübergehenden Unterbringung. Auf dem Zinnacker-Weg hat man 2 Wohnhäuser erbaut und damit 3 Familien Wohngelegenheit geschaffen. Der Humpel weist 20 Heimstätten auf, die 25 Wohnungen für 25 Familien enthalten. Die Größe der Familien schwankt zwischen einem Ehepaar mit 1 Kind und einem Ehepaar mit 7 Kindern, denen gesunde Wohnungen bereitet werden konnten, zumal jede Heimstätte Gartenland von 520 bis 710 Quadratmeter besitzt. Diese Bodenfläche dient einmal dazu, daß jedes Haus oder die Häusergruppen frei stehen, zum anderen bietet es Gelegenheit, den Eigenbedarf an Gemüse, Beerenobst usw. anzubauen. Ueber das meiste Gartengelände verfügen die Siedlungen im Humpel.
(Photo Fritz Hacker-Annaberg)
Der Wohnraum in den einzelnen Häusern ist ausreichend bemessen und bietet eine Wohnküche, eine Wohnstube, zwei Schlafstuben, zwei Kellerräume. Einzelne Häuser haben noch ein bis zwei weitere Räume und Dachkammern.
Waschhaus und Stallgebäude sind für jedes Haus vorhanden. Der Stall bietet willkommene Gelegenheit zur Viehhaltung. Er wird in allen Fällen voll ausgenutzt durch Haltung von Ziegen, Kaninchen, Hühnern und auch Schweinen. Auf einer Wirtschaftsheimstätte ist sogar ein Pferd für Berufszwecke vorhanden.
Das Leben im Siedlungshaus erzieht ganz von selbst zur Häuslichkeit und ist die beste Gewähr für ein harmonisches Familienleben. Da auch die Jugend vermehrte Gelegenheit zur Betätigung, besonders im Garten, hat, wird ihr eine gesunde Beschäftigung geboten und gleichzeitig die Liebe zur heimatlichen Scholle anerzogen.
Gewiß haben manche Siedler auch schwere finanzielle Sorgen zu überstehen gehabt, hauptsächlich wohl, weil sie mit zu wenig Eigenkapital an ihr Projekt herangegangen waren. Aber das Bewußtsein, durch eigene Kraft Bleibendes schaffen zu können und der Familie eine gesunde Wohnung auf eigenem Grund und Boden bereitet zu haben, ließen auch diese sorgenvolle Zeit überstehen. Die Worte, welche am 3. Juli dieses Jahres unser Schriftleiter Dr. Jacobi den Siedlern widmete, charakterisieren den Siedlerwillen vortrefflich. Sie lauten:
Ihr habt mit festem, klaren Mut
Euch in das Buch der Zeit geschrieben.
Und was Euch einst als Hehres Gut
Hinaus zur blanken Tat getrieben,
Der Heimat Schutz, des Herdes Wehr,
Die Liebe zu der Mutter Erde,
Daß sie trotz Not und Tod und Geer,
Durch Euch hinfort geregnet werde.
Das habt Ihr trefflich wahr gemacht,
Und mit dem Schwetrt getauscht den Spaten.
Und seht! – Durch eines Volkes Nacht
Ist hier ein großes Werk geraten.
Weil Ihr – umringt oft von Gefahr –
Nun friedlich Euer Ziel gerichtet,
Und zäh und ernst so Jahr um Jahr
In Freude Stein zu Stein geschichtet.
Und nicht geruht, bis es so stand,
Wie Ihr erträumt in schweren Jahren,
Daß Euch die Scholle, Euch das Land,
Die alte Treue neu bewahren.
So habt Ihr Haus um Haus
Aus uns’rer guten alten Erde,
Auf daß sie in dem Weltgebraus
Euch wieder Heim und Hafen werde!