Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 11 – Sonntag, den 13. März 1927, S. 2
Das wird wohl sehr lange her sein, denkt da gewiß mancher Leser, wenigstens ein paar Jahrhunderte. Wie ärmlich nimmt sich doch die Petroleumlampe neben der reichen, ja bisweilen geradezu feenhaften Beleuchtung aus, die in diesen Wintermonaten wieder zu beobachten war, am Weihnachtsfest und bei mancherlei Veranstaltungen! Aber hier stehen wir vor einer Ausnahme in der Entwicklung. Als Baukunst, Bildhauerei, Malerei, Dichtkunst, Musik, Kunsthandwerk u. a. schon zu staunenswerter Vollendung gelangt waren, befand sich die Beleuchtung fast noch auf der Stufe des Altertums. Napoleon hat sich bei seinen Arbeiten in der Dunkelheit mit dem Schein der Kerze begnügen müssen, Schillers Dramen sind bei dem trüben Licht der Unschlittkerze, deren „Räuber“ man mit der Lichtputzschere „schäuzen“ mußte, entstanden, und noch der alte Goethe sagte: „Ich wüßte nicht, was die Menschen Besseres erfinden konnten, als daß die Lichter ohne Putzen brennten.“ Auch als vor 1800 die Herstellung des Leuchtgases gelungen war und es in London, Freiberg, Paris u. a. großen Städten zur Beleuchtung verwendet wurde, bediente man sich in der Breite des Volkes und also auch in Scheibenberg der Rüböllampe, deren Licht man durch „Klöppelflaschen“ für gewisse Handwerks- und gewerbliche Arbeiten so verstärken konnte, daß es vollauf genügte. So blieb es bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hin, und wo man in den Familien noch eine alte Klöppelflasche oder eine blanke Putzenschere besitzt, sollte man ihnen einen Ehrenplatz neben alten Zinnsachen anweisen.
Die große Umwälzung kam in der Beleuchtung erst, nachdem der Amerikaner Drake am 12. Aug. 1859 im Ölgefilde von Tituville in Pennsylvanien das erste 22 Meter tiefe Bohrloch niedergebracht hatte, das täglich 90 Hektoliter Petroleum lieferte. Nun erzeugte der wertvolle Stoff ein wahres „Ölfieber“ und wurde Welthandelsprodukt, während er als „Steinöl“ schon seit dem Altertum bekannt gewesen war, hauptsächlich aber als Arzneimittel gedient hatte.
Wann und wie hielt nun die Petroleumlampe in Scheibenberg ihren Einzug? Dieses Ereignis ist mit Karl Lorgi verknüpft, dessen Leben auch sonst voll Denkwürdigkeiten war. Er starb erst im Weltkriege im Alter von 89 Jahren (Wilhelmstraße Nr. 34) und ist sicher noch vielen Scheibenbergern bekannt als alter Oberleutnant der hiesigen Schützengilde. Geboren wurde er 1827, er erlernte das Posamentierhandwerk und zog mit 18 Jahren in die Fremde. Das Felleisen (damals gebräuchlicher lederner Reisesack) auf dem Rücken, wanderte er frohgemut nach Osten, durch ganz Sachsen hndurch und kam bis Breslau, von da wandte er sich nach der alten Kaiserstadt Wien. Hier arbeitete er unter mühseligen Verhältnissen 1 ¼ Jahr lang, Kurzarbeit und andere Nachteile beeinträchtigten seinen Aufenthalt. Er war noch auf dem Handstuhl tätig, während neben ihm schon Mühlstühle gingen, doch erhielt er für 1 Meter handgefertigte „Galanteriearbeit“ nur den Lohn wie die anderen für 1 Meter Maschinenarbeit. So war er’s zufrieden, als ihn die Militärpflicht mit 20 Jahren heimrief. Gerade zur Kirmes kehrte er ins Elternhaus zurück. Bei der „Stellung“ wurden von 12 Rekruten 6 ausgehoben, darunter der lange Karl Lorgi mit. Alle Tauglichen der Jugend wurden bald darauf nach Zwickau befohlen, wo sie ein Los ziehen mußten. Lorgi zog die Nummer 102, da aber nur 100 Mann von seiner Abteilung gebraucht wurden, hatte er sich „freigelost“.
Nach seiner Heimkehr aus der Fremde konnte er beobachten, daß die Maschine wie in Wien, so auch im Erzgebirge eindrang; hier war es besonders die Nagelfabrik in Mittweida. Da sie den Nagelschmieden der Umgegend harte Konkurrenz bereitete, kam es im März 1848 zu dem bekannten Aufruhr. Lorgi befand sich als Zuschauer in der Nähe des Tumults, und als die zu Hilfe gerufenen Schwarzenberger Schützen von der Waffe Gebrauch machten, bekam auch er sein Teil ab, ein Schrotkorn, das nahe über dem Auge eindrang und da blieb bis an das Lebensende des Mannes.
Die ersten Jahre seiner Ehe, der zwei Söhne und eine Tochter entsprossen, waren sehr schwer, vor allem wegen der allgemeinen, drückenden Wirtschaftslage; denn das waren die berüchtigten, die teuren und nahrungslosen fünfziger Jahre. Noch in hohem Alter erzählte er, daß er da seine Kinder manchmal habe nach 1 Pfund Brot schicken müssen. Aber von 1860 an trat eine Besserung ein, weil die Posamenten wieder gute Abnahme fanden. Frau Lorgi war Meisterin in der Herstellung der „Bandzacken“, deren sich hiesige ältere Leute noch gut erinnern können und die damals sehr in Aufnahme kamen. Bald konnten ihre Hände die Bestellungen nicht mehr bewältigen, und Karl Lorgi wurde Verleger. Die fertige Arbeit trug er selbst nach Annaberg. In jener Zeit benutzten die Männer zur Beförderung solcher Lasten den hohen Lederranzen und noch häufiger den Quersack aus Stoff, dessen beide Enden von der Mitte aus gefüllt wurden; dann drehte man ihn in der Mitte mehrmals um sich selbst und hing ihn nach vorn und hinten über die Achsel. Die Frauen bedienten sich der Tragkörbe und großer, hoher Handkörbe. Wie schwer haben sich’s die Leute damals werden lassen! Dabei ist Lorgi manchen Tag dreimal nach Annaberg gegangen. Wer wäre heute dazu fähig und bereit?
Da war es im Jahre 1861, wohl um die gegenwärtige Jahreszeit. Der neue Verleger wohnte mit seiner Familie am Markte bei dem Nagelschmied Eduard Röbert, wo jetzt das neue Rathaus steht, in der „Oberstube“.
Als Karl Abends von Annaberg heimkam, sagte er zu seiner Frau: „Gustel, Du warscht Diech wunnern, wos iech heit mietgebracht hob!“ „Doch net wieder verkehrte Zutot!“ kam es vom Arbeitstische zurück, wo eine schöne, lange Frau noch eifrig mit den Bandzacken beschäftigt war. Aber jetzt machte sie Schluß mit ihrem Tagewerk, stand auf und trat näher, auch die Kinder hatten sich ganz neugierig vor dem Vater aufgestellt. Kaum hatte er sich „leichter gemacht“, so mußte er die Neuheit auspacken. Aber o je! das war nichts zu essen, auch nichts zum Spielen, sondern der Vater tat sehr behutsam damit, ein Drahtgestell, unten mit einer Tülle, oben mit einem Blechring versehen. Die Mutter mußte es halten, und unter allgemeiner Spannung und von Fragen bestürmt, packte der Vater weiter aus. Auf die Tülle setzte er eine Kugel. Nun brachte er eine sehr gut eingehüllte Flasche hervor und füllte jene Kugel mit einer übelriechenden, hellen Flüssigkeit. Dahinein tat er einen Streifen Stoff und verschloß die Kugel mit einer seltsamen, hohen glänzenden Schraube. Den oben vorstehenden feuchten Stoffzündete er an und stellte ein langes hohles Glas darüber. Oben auf das Drahtgestell setzte er noch einen weißen Porzellanschirm, dann hängte er die neue Lampe da auf, wo zu Weihnachten der Leuchter gehangen hatte. Wie sprangen da die Buben vor Freude, wie klatschten die Kinderhändchen ineinander; denn das war ja wieder wie zum heiligen Abend, ja, die eine Lampe schien noch heller als damals alle Kerzen zusammen! Die erste Petroleumflamme war in Scheibenberg entzündet worden und warf ihren Schein hinaus auf den Marktplatz, wo ihn aber kaum jemand beobachtete.
Den Lorgikindern bereitete die neue Lampe, die der Vater in Annaberg in einem Geschäfte gesehen und gekauft hatte, noch viele Abende eine besondere Freude, und auch der Mutter war sie bei ihrer Posamentenarbeit sehr gefunden, wenn der Tag zur Rüste gegangen war. Kamen dann Bekannte, so wunderten sie sich über das helle Zimmer; denn während sonst der größere Teil des Raumes in Dunkel gehüllt war, war hier der größere Teil erhellt. Anscheinend hat es nicht sehr lange gedauert, so konnte man auch in Scheibenberg das neue Oel und die neuen Lampen kaufen und in zahlreichen Stuben antreffen.
So hatte das Licht aufs neue seinen Ausnahmecharakter bewahrt, in kaum 2 Jahren hatte die Petroleumbeleuchtung ihren Weg von Amerika nach Scheibenberg gefunden, während nicht wenig andere Erfindungen Jahrzehnte, ja Jahrhunderte zu ihrer allgemeinen Verbreitung gebraucht haben.